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Die sanfte Hand

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 6 Min.

An der Bushaltestelle in der Hebronstraße spricht mich ein junger Araber an. Sieht er den Juden in mir oder einfach nur den Ausländer, der aus fernen Welten nach Bethlehem gekommen ist? Die Hand aufs Herz gelegt, versichert er mir, sein sehnlichster Wunsch sei Frieden und dass die Araber mit den Juden in Eintracht leben. Durch viele Länder sei er gereist, aber leben wolle er nur in Bethlehem, der Stadt seiner Väter. Es sei ihm eine Ehre, mit mir zu sprechen und wissen solle ich, nichts wünsche er mehr, als dass eine sanfte Hand über Bethlehem liege.

Im dicht besetzten Bus werden wir getrennt, doch kurz bevor er am Stadtrand von Bethlehem aussteigt, drängt er sich zu mir hin und raunt leise, eindringlich: »Friede sei mit Ihnen«, wobei er auch diesmal die Hand aufs Herz legt. Dann zwängt er sich zum Ausgang und entschwindet meinem Blick in einer Gasse.

Es stimmt Miriam Halevi nachdenklich, als ich ihr die Begegnung schildere, mir ist sogar, als läge ein Ausdruck von Betroffenheit in ihrem Blick. Nicht nur ihr Vater, auch sie wünsche nichts sehnlicher als ein friedliches Miteinander von Juden und Arabern, ihr Verlobter, den sie mir ja schon vorgestellt habe, sei vom Krieg fürs Leben gezeichnet.

»War das nicht zu merken?«

Nein, ich hatte nichts bemerkt. Der junge Offizier einer Panzereinheit, ein hoch gewachsener, braungebrannter Mann, war mir durchaus gesund vorgekommen, er wirkte ruhig und besonnen. Wie denn und wodurch war er fürs Leben gezeichnet?

»Seit dem Sinai-Einsatz ist Ezra auf dem linken Ohr taub. Es muss Ihnen doch aufgefallen sein, wie er den Kopf wendet, wenn er angesprochen wird.«

Es läutet an der Wohnungstür. Miriam eilt, um zu öffnen. Augenblicke später kommt sie mit ihrem Verlobten zurück. Er hat den Arm um sie gelegt. Zierlich, wie sie ist, verschwindet sie förmlich neben ihm. Ich stehe auf, um zu gehen, doch beide drängen mich zu bleiben.

Ezra Kaplan wirkt angenehm unsoldatisch, wie er dasitzt, die Ärmel des Khakihemdes hochgerollt, die Bänder der Schnürstiefel gelockert. Er hat eine jungenhafte Art, das Haar zurückzuwerfen und dann lächelnd aufzublicken. Jetzt aber, während ich auf Miriams Bitte hin noch einmal die Begegnung mit dem Araber schildere, lächelt er nicht. Den Kopf leicht nach links gewendet, betrachtet er mich skeptisch.

»Doch das Messer sieht man nicht«, sagt er, ohne die Stimme zu heben. »Arabisches Geschwätz aus Tausendundeiner Nacht!«

Da er wohl spürt, dass ich das anders sehe, fährt er ohne Pause und um einiges heftiger fort: »Der Hass ist mit Worten nicht aus der Welt geschafft. Wir stehen gegen die Araber mit dem Rücken zur Wand. Für uns geht es um Sein oder Nichtsein!«

»Für die Palästinenser in den Lagern etwa nicht?« wirft Miriam ein.

»Kleine Taube«, sagt er mit leiser Eindringlichkeit. »Echo deines Vaters! Die Palästinenser, diese armen Teufel, sind die Opfer zwischen den Fronten - um sie geht es am wenigsten.«

»Sind wir etwa besser dran?« fragt Miriam.

»Ich meine doch«, sagt er. »Sollten wir noch immer die Opfer sein, wäre ja alles umsonst gewesen.«

»Alles wäre umsonst gewesen, wenn wir aus den Verfolgungen, die wir selbst erlitten haben, nichts gelernt hätten«, erwidert sie.

Er fällt ihr ins Wort: »Gewalt muss mit Gewalt begegnet werden, und Angriff ist die beste Verteidigung. Was mich angeht, so werde ich jedenfalls nicht abwarten, bis die Zukunft mir recht gibt.«

»Wie soll ich das verstehen, Ezra?«

»Sechs Jahre im Panzer und halb taub dazu, das reicht doch, oder nicht?«

»Was hast du vor? Was verbirgst du vor mir?«

»Es ist schon mancher in Amerika geblieben, der eigentlich nur einen Besuch dort machen wollte. Den nächsten Nahostkrieg erlebe ich am Bildschirm, in New York oder in Chicago.«

»Bei wem?« fragt sie bestürzt. »Mit wem?«

»Du studierst hier zu Ende und kommst dann nach«, höre ich ihn noch sagen. Sie sprechen jetzt hebräisch weiter, bemühen sich nicht länger, mich einzubeziehen. Ich schiebe meinen Sessel zurück und stehe auf.

»Auf Wiedersehen.«

Nur Miriam antwortet. Der Soldat, so scheint es, hat mich weder gehört, noch bemerkt er, dass ich das Zimmer verlasse.

***

Ich erkenne ihn nicht - fahle Gesichtshaut, hohle Wangen, das schüttere Haar so kurz, dass er fast kahlköpfig wirkt. Noch als er mir die Hand reicht und nach flüchtiger Begrüßung schweigsam und in sich gekehrt Platz nimmt, geht mir nicht auf, wen Miriam Halevi da hereingeführt hat. Erst als sie fragt, ob wir uns denn nichts zu sagen hätten und er ihr dabei mit leichter Kopfneigung das rechte Ohr zuwendet, wird mir bewusst, dass es Ezra Kaplan sein muss, jener Offizier einer Panzereinheit, dem ich hier vor achtzehn Monaten begegnet bin. Kann sich ein Mensch in so kurzer Zeit derart verändern?

Es ist nicht nur sein Äußeres, auch im Wesen erscheint er als ein anderer, da ist nichts mehr von der jungenhaften Art lächelnd aufzublicken, dazu dieser ständige Flüsterton, in dem er jetzt spricht. Er scheint sehr krank zu sein und auch deswegen vermutlich nicht mehr in der Armee. Jedenfalls trägt er Zivil. Ich erinnere mich, dass er Amerika besuchen und dort bleiben wollte. Das wird sich zerschlagen und eine Heirat mit Miriam nicht stattgefunden haben, sonst lebten sie ja zusammen, käme er nicht nur zu Besuch.

Wie wir da nun schweigend beieinander sitzen, fühle ich mich noch weniger einbezogen als vor achtzehn Monaten. Da war immerhin noch ein Streitgespräch aufgekommen, hatte es zwischen uns drei’n Auseinandersetzungen über arabische Gewalt gegeben und wie dieser zu begegnen sei. »Angriff ist die beste Verteidigung.« Diesmal bleibt jegliche Politik außen vor, seine abweisende Haltung erstickt jeden ihrer Versuche, uns ins Gespräch zu bringen; meine Belange scheinen ihn nicht mehr zu interessieren.

Als er bald wieder aufbricht, bleibt mir unerklärlich, warum er überhaupt gekommen ist. Was verbindet die beiden noch miteinander? Die Spannung in ihren Beziehungen, die damals so deutlich zu spüren gewesen war, scheint anderen Gefühlen gewichen zu sein, einer Art unwilliger Abhängigkeit seinerseits, besorgter, nur noch mütterlich-schwesterlicher Zuneigung ihrerseits. Was also ist ihm zugestoßen?

Die Frage muss in meinen Augen stehen, denn als Miriam ihn hinausbegleitet hat und wieder ins Zimmer zurückgekehrt ist, lässt sie mich nicht länger im Ungewissen. In bedrücktem Ton beklagt sie, dass man trotz seines Gehörschadens auf ihn zurückgegriffen hatte, als es vor neun Monaten zu einem Großeinsatz jenseits der libanesischen Grenze gekommen war. »Gewalt, Gewalt!« Der Panzer, den er befehligte, sei über einer Landmine explodiert und sein bester Freund bei dem Versuch, ihn aus dem Wrack zu retten, ums Leben gekommen.

»Wie das auf ihm lastet - mehr noch, meine ich, als die furchtbare Verletzung, die er davontrug und von der ich nicht sprechen mag.« Und dann spricht sie doch davon, leise und mit abgewendetem Gesicht. »Ezra ist kein Mann mehr - kein Mann mehr, im eigentlichen Sinn.«

Der Schriftsteller Walter Kaufmann konnte 1939 aus Nazideutschland fliehen; im Zweiten Weltkrieg kämpfte er in der australischen Armee.

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