Wenn Poeten zusammenkommen

Günter Grass «Das Treffen in Telgte»

  • Horst Nalewski
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Büchlein, 119 Seiten, war 1984 im Reclam-­Verlag Leipzig mit einer «Vorbemerkung» von Stephan Hermlin erschienen - als erste Publikation von Günter Grass in der DDR.

Liest man Hermlins «Vorbemerkung» heute, erfährt man etwas sowohl von dessen Bewunderung dem «genialen Erzähler» gegenüber wie auch von seiner mutigen Verortung der «Gruppe 47», «ohne die man nicht von deutscher Literatur nach dem 2. Weltkrieg reden kann». Zugleich ist ein Ton der Vergeblichkeit unüberhörbar, wenn es da im Nachsatz heißt: «Der Verfasser dieser Zeilen bezeichnete vor 25 Jahren Günter Grass» - damals erschien dessen Roman «Die Blechtrommel» (1959) - «als einen jener Autoren, die unbedingt in unserm Lande erscheinen müssten».

Die Erzählung hat eine eigene Entstehungsgeschichte. Gewidmet ist sie dem Schriftsteller Hans Werner Richter zu dessen 70. Geburtstag 1978. Er war damals der schon zur Legende gewordene Begründer und zwei Jahrzehnte souveräne Mentor jener «Gruppe 47» gewesen. 47 meinte das Jahr 1947. Da fanden sich einige Schriftsteller, die den Krieg überlebt und sich nun einem realen und geistigen Trümmerfeld gegenüber sahen, in einem kleinen Ort bei Füssen im Allgäu zusammen. Sie lasen einander vor, diskutierten, kritisierten und waren der Überzeugung: wenn deutsche Literatur, hier und künftig, dann in einem radikalen Neuansatz, einem «Kahlschlag» allem Überlieferten gegenüber. Man traf sich wieder. Einer oder Eine von den Eingeladenen las Unveröffentlichtes, saß auf dem sogenannten «Elektrischen Stuhl», musste wehrlos die Kritik über sich ergehen lassen, fiel durch oder wurde ausgezeichnet. Zu Letzteren gehörten im ersten Jahrzehnt: Günter Eich, Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Martin Walser, Günter Grass, Johannes Bobrowski.

Grass’ Erzählung von 1979 wurde von der Kritik in höchsten Tönen gelobt. Raddatz: «Die Perfektion dieses schmalen Bändchens ist schlechterdings bewundernswert.» Reich-Ranicki: «Eine Kunst, die in der deutschen Literatur dieser Tage ihresgleichen nicht hat.» Hermlin: «Grass gibt mit hoher Sinnlichkeit ein Bild des Barock, das seinesgleichen sucht und schwerlich findet.» Es war in der Tat ein wahrhaft fantastisch-genialer Einfall von Günter Grass, aus dem Erinnern des Jahres 1947 und dem Erleben der «Gruppe 47» eine Spiegelung 300 Jahre zurück, in das Jahr 1647, zu erfinden. Vergleichbar wurden die Zeiten, 1947 und 1647: Deutschland eine Wüste, vielfach zerrissen, von Millionen Toten bedeckt und nun von fremden Truppen besetzt. Die Frage war: «Was kann man tun? Einen Versuch machen, das Vaterland zu retten.» (Hermlin im weltbedrohten Jahr 1984) 1947 gelang ein Treffen mit Folgen; 1647 eben nicht. Und so erfindet es Günter Grass für damals: «Das Treffen in Telgte».

Dorthin, in einen kleinen Ort bei Münster, lädt der Königsberger Simon Dach die Männer des bloßen Wortgeschehens ein. Sie kommen alle; aus fern und nah. Andreas Gryphius, Paul Gerhardt, Johannes Scheffler, und Hofmannswaldau, Logau, Weckherlin, Grimmelshausen. Schließlich sind es über zwanzig, «die Repräsentanten einer großen Epoche, einer der größten unserer Literatur» (Hermlin), die sich im Brückenhof der Libuschka« versammeln. Alle hatten sie die Not des Vaterlands erlebt, gesehen, davon sprachen sie in bedrängenden Bildern. Im Willen, einen Aufruf der Dichter an die Fürsten zu verfassen, waren sie sich einig. Mit Donnerworten hebt es nun an, jenes »Manifest«.

Der Leser kann sich des Staunens nicht verschließen angesichts der Kunst des Dichters Günter Grass, eine Sprache aufleben zu lassen, die einmal die unsere war: »Teutschland, das herrlichste Kaiserthumb der Welt, ist nun mehr auff den Grund außgemergelt, verheeret und verderbet ... Diß saget die Warheit! Daß nunmehr daß höchst bedrängte und in den letzten Zügen liegende Vaterland mit dem alleredelsten Frieden widerumb beseeliget werden wolle ...« Dann jedoch ereignet sich die Katastrophe: Der ganze Hof geht in Flammen auf. Wenn sich auch alle retten konnten, das »Manifest« war mitverbrannt! So blieb ungesagt, was doch nicht gehört worden wäre. Alle kehren sie zurück, woher sie gekommen. Alle in dem Bewusstsein: gelohnt habe der Aufwand am Ende wohl doch. Fortan könne sich ein jeder weniger vereinzelt begreifen. Und selbst diesen Trotz möchte man bewundern, für damals wie für heute: Kein Fürst komme ihnen gleich. Ihr Vermögen sei nicht zu erkaufen. Und wenn man sie steinigen, mit Hass verschütten wollte, würde noch aus dem Geröll die Hand mit der Feder ragen.

Als Grass diese Erzählung schrieb, 1978, gab es die »Gruppe 47« nicht mehr. Die Zeiten umspannend ist deshalb das letzte Wort des Erzählers von Melancholie besetzt: Keiner ging uns verloren. Alle kamen wir an. Doch hat uns in jenem Jahrhundert nie wieder jemand in Telgte oder an einem anderen Ort versammelt. Immerhin war im Dezember 1981 gegen die Politik der Ost-West-Konfrontation ein deutsch-deutsches Schriftstellertreffen zustande gekommen: die »Berliner Begegnung zur Friedensförderung«, im Gefolge der Gespräche Schmidt-Honecker organisiert von Stephan Hermlin, der dort auch Günter Grass traf.

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