Mein Freund, der Baum

Von Martin Hatzius

  • Lesedauer: 3 Min.

Als gebürtiger Berliner hätte ich es wissen müssen: Es war ein Fehler, den Weihnachtsbaum schon am dritten Advent im märkischen Forst zu schlagen und die vier Treppen im Friedrichshainer Altbau hochzuwuchten.

Jetzt steht er da im geheizten Wohnzimmer wie ein Hungerleider, der seit zwei Wochen nichts zu fressen gekriegt hat, und weint Nadeln. Zwar haben die Kinder ihn mit glitzernden Lamettaballen behängt und mit gläsernen Kugeln in Dunkelrot und Silber beworfen, von denen manche noch nicht mal zerbrochen sind, aber dieses Festkleid ist nur mehr ein fader Schleier. Wenn man die Kinder - drei Tage gemästet mit dem Weihnachtsschmaus, dessen Reste nun in Tupperdosen auf dem Balkon frieren - neben den Baum stellt, leuchten deren Bäuche weit heller als die Lichterketten am kahlen Geäst. Von meinem eigenen Bauch ganz zu schweigen und erst recht vom Bauch der Kindesmutter.

Dabei hätte ich es besser wissen können. Schon in den Vorjahren war mir nämlich die Idee gekommen, den Baum im märkischen Forst nicht zu schlagen, sondern auszugraben, nach Friedrichshain zu bringen und genau dort wieder einzupflanzen, wo bis zum Abend des 23. Dezember eine erstarrte Blechlawine die Pflastersteine der Straßenränder bedeckt. Trotz der in diesem Jahr auch in unserem Viertel eingeführten »Parkraumbewirtschaftung« samt horrender Gebühren reiht sich dort 51 Wochen im Jahr Auto an Auto. Wenn man aber am Heiligabend das Haus verlässt, klaffen auf dem Pflaster Lücken, wie sie nach dem Krieg auch zwischen den Mietkasernen geklafft haben. Erst in den letzten paar Jahren sind all diese bombengeborenen Freiflächen von Investoren mit sehr teuren Eigentumswohnungen wieder aufgefüllt worden. Die Eigentumsautomobile der Eigentumswohnungsbesitzer indessen sind, ihr Name sagt es, mobil. »Zwischen den Jahren«, wie die Besitzer der Eigentumswohnungen und der Eigentumsautomobile die letzten sieben Tage auf dem Kalender nennen, rollen sie in Tsunamiwellen von dannen, um sich schätzen zu lassen, ein jeder in seine Stadt.

So wie man auf dem nahegelegenen Spielplatz, in dessen Gewimmel es normalerweise ausgeschlossen ist, seine eigenen Kinder jemals wiederzufinden, derzeit mutterseelenallein die Vierschanzentournee nachspielen kann, hätte ich also den Weihnachtsbaum einfach in eine der verwaisten Parklücken setzen und dort schmücken können, wenn ich nur geduldig genug gewesen wäre. Das Sofa und der Esstisch hätten rund um den Baum ihren Platz gefunden und unser zugegebenermaßen ziemlich schriller »Stille Nacht«-Gesang hätte niemanden gestört, weil ja niemand da ist. (Niemand, außer der schwer berlinernden Verkäuferin in der immer geöffneten »Schwäbischen Bäckerei«, deren Topseller die »Ostschrippe« ist). Das wäre ein Fest geworden - und dem Baum ginge es jetzt deutlich besser. Na ja, nächstes Jahr.

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