nd-aktuell.de / 31.12.2014 / Kultur / Seite 13

Erfindung der Wirklichkeit

Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski wird 70

Hans-Dieter Schütt

Im fremden Lebensdschungel, in den überlieferten Abläufen einer Existenz eine innere Exotik aufspüren, die aus heutigen Themen und Fragestellungen ihre Reize bezieht - das ist das Metier von Rüdiger Safranski. Ja, so über andere Menschen schreiben, dass man als Erkennender zugleich zum Selbst-Erkannten wird. Die Person, ob sie nun E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer, Heidegger oder Nietzsche heißt, als ein Abenteuer ganz aus Gegenwart.

Safranski, geboren im württembergischen Rottweil, war Assistent an der Freien Universität Berlin, Redakteur einer linken Kulturzeitschrift, Dozent in der Erwachsenenbildung - ehe er seinen Weg ins Freischaffende ging. An jedem Großen der Geistesgeschichte bewegt ihn jener entscheidende Punkt, da Existenz und Werk eine dämonische Verbindung eingehen. Wo Geistesarbeit also bedeutet, in jedem Moment abstürzen zu können. Was macht solch eine Spannung aus einem Leben, wie dringt die Idee in die jeweiligen Körper ein, was vermag der Wille zum Werk gegen die Anfechtungen der menschlichen, also verwitternden Natur?

Das sind Fragen, die man in jedem Buch Safranskis findet. Weltlauf und Ich; der innere, labyrinthische Kosmos des Einzelnen und die Außenwelt - welche Befruchtungen, welche Kriege? Er schrieb auch direkt fragende Bücher: »Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?«, »Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?« Und er verfasste einen Essay über »Das Böse oder das Drama der Freiheit«, ein erregendes Nachdenken darüber, wie Freiheit erst im Handeln entsteht, aber jedes Handeln ein Weg in neue Ungewissheit, in die Gefahr des Unsicheren ist. Wahre Freiheit bleibt die zugigste Strecke, die man wählen kann - jede Tat, frei angegangen, bedeutet: Konsequenz, Abschneiden anderer Optionen, neue Kreuzungswege. Wer Freiheit bejaht, bejaht die Unwägbarkeit.

Besonders das Buch »Goethe und Schiller« ist ein Werk, darin Safranskis Geist exemplarisch wirkt und webt. Ein Buch über die Friedenspraxis polarer Kräfte. Aus dem Einzelfall Goethe-Schiller hinaus ins Gesellschaftliche gefragt: Wie trägt man große geistige Gegensätze als Zuarbeit für eine wirklich geistvolle gesellschaftliche Atmosphäre aus? Wie beflügeln, wie zähmen einander der rebellische und der ausgleichende Gedanke? Wie suchen und vertragen sich überschäumender Rebellengeist und schaumgebremster Konservatismus? Wie kann ein radikales Ideengut befruchtend auf Politik wirken, aber was muss unbedingt geschehen, damit radikaler Geist nicht selber (wieder) nur Politik wird? Goethe und Schiller als Gleichnis, wie die Weltveränderungsidee aufs zurückhaltendere Modell der Selbsterziehung trifft. So ist dieses Buch auch deshalb anregend, weil es einen Scheinwerfer durch die Zeiten leuchten lässt.

Schiller begrüßt die Französische Revolution, wie er überhaupt intensiv darüber nachdenkt, so Safranski, »was es bedeutet, Zeitgenosse oder Zeuge von großen geschichtlichen Ereignissen zu sein. Wenn man sich nicht von ihnen verwandeln lässt, wird man ihrer nicht würdig sein können.« Aber in der großen Revolution habe sich für Schiller gezeigt, so der Autor, »dass die Menschen innerlich noch nicht frei genug sind, um die äußere Freiheit wohltuend zu gebrauchen«. Goethe lehnt Revolution grundsätzlich ab. Er ist kein Freund der Vulkane - »das Allmähliche zog ihn an«, schreibt Safranski, »er ist Gärtner, ist Heger und Pfleger, wo Schiller zum Roden neigt«. Goethe missbillig jede Revolution, weil »die mit ihr verbundene Politisierung die Menschen in Verhältnisse und Aktivitäten verwickelt, die sie notorisch überfordern … Goethe bezweifelte, dass mit den Massen auch die politische Mündigkeit an die Macht käme. Er sieht nur das unheilvolle Wirken der Demagogen, Doktrinäre und Dogmatiker« (Safranski). Dichterporträts als Autor-Weisheit: Der Mensch möge, um seiner selbst willen, nur so viel Welt aufnehmen, wie er vertragen kann.

Vielleicht frönt der wirklich gute Biograf einer heimlichen Liebe: Er wäre so gern Romancier. Safranski ist es. Ein Romancier des Wirklichen, des freien Denkens, dessen höchster Ausdruck nicht darin besteht, Leben zu erfassen, sondern Leben zu erzählen. Um als Archäologe doch auch Weltbegründer zu sein. Wie Gottfried Benn es sagte: »Der Geist ist eine Welt für sich, in ihm spiegelt sich keine Welt, seine Formen stehen der Welt gegenüber als ein eigenes Reich mit eigenem Gesetz.« Safranskis Bücher sind somit Reiseberichte von einer Besessenheitsexpedition: Leben zur herrschenden Idee gegen die Wirklichkeit zu erheben. In unseren Erfindungen von Welt wird diese - reich. Das ist die Kunst: Vergangenheit lebendigschreiben. Wir träumen doch gar nicht so sehr in die Zukunft!, ein Gelände ist das, nicht wirklich mit Farben versehen und Tönen oder immer neuen Abzweigungen, ein fader Ort eher, nicht greif- und vorstellbar. Nein, wir träumen uns fortwährend in die Vergangenheit. Wir holen herauf, drängen weg, bauen um, spielen mit verpassten Gelegenheiten wie das Kind mit Klötzchen, verkuppeln das, was stattfand, mit dem, was hätte stattfinden mögen; unsere Fantasie, unser Bewusstsein: ein gigantisches Rekonstruktionsbüro mit unzähligen, ameisenhaft emsigen Helfern für ein Panorama der Existenz, ganz aus Milliarden Sekundenscherben, das keine Vollendung findet - was den Arbeitseifer im Ameisengedankenhaufen unseres Hirns nur noch steigert. Was geschah, ist nicht das, was war, es ist das, was ihm nachgesonnen wird. Von dem, was längst aufhörte, bleibt etwas, das unaufhörlich weiter erdacht wird.

Am 1. Januar wird Rüdiger Safranski siebzig Jahre alt.