Rückkehr in die Öffentlichkeit

Nach jahrzehntelangem Verschweigen würdigt Althengstett Opfer einer Gestapo-Gräueltat

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.
1942 wurde die Liebesbeziehung zwischen Marian Tomczak und Hedwig Zipperer offenbar - das Todesurteil für den polnischen Zwangsarbeiter. Nun soll offiziell an die Geschichte erinnert werden.

Knapp 70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus steht auch in der baden-württembergischen Gemeinde Althengstett einer offiziellen Aufarbeitung bisher beschwiegener Geschehnisse der lokalen NS-Geschichte nichts mehr im Wege. So beschloss der Gemeinderat unlängst einstimmig die Errichtung eines Gedenksteins für den 1915 geborenen polnischen Zwangsarbeiter Marian Tomczak und die acht Jahre jüngere Althengstetterin Hedwig Zipperer. Tomczak war nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wie viele andere Menschen aus von der Wehrmacht besetzten Ländern Europas als Kriegsgefangener für Arbeiten in Industrie, Handel und Landwirtschaft nach Deutschland verschleppt worden.

Die beiden jungen Leute Marian und Hedwig lernten sich im rund 40 Kilometer westlich von Stuttgart gelegenen Althengstett kennen und lieben. Aus ihrer Verbindung ging 1942 ein Sohn hervor. Als örtliche Nazi-Funktionäre von der Liebesbeziehung erfuhren, schalteten sie die Stuttgarter Gestapo ein. Weil der Dorfbürgermeister die Unterschrift verweigerte, unterzeichnete dessen Stellvertreter, ein ranghoher örtlicher NSDAP-Funktionär und Gastwirt, das Todesurteil. Am 3. August 1942 wurde Marian Tomczak im Beisein seiner polnischen und französischen Mitkriegsgefangenen durch ein Gestapo-Kommando in einem ortsnahen Waldstück erhängt. Hedwig Zipperer wurde für ihre Liebe zu Tomczak von 1942 bis 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert und war noch in den letzten Kriegsmonaten in ihrer Heimatgemeinde schweren persönlichen Demütigungen ausgesetzt. Sie konnte und wollte nicht mehr in Althengstett bleiben und übersiedelte nach Kriegsende an einen anderen Ort. 2007 verstarb sie in einem Pflegeheim im Nordschwarzwald.

Unmittelbarer Anlass für die Aufstellung des Gedenksteins ist der 100. Geburtstag Marian Tomczaks am 2. September 2015. Den 3. Oktober haben die Entscheidungsträger im Althengstetter Rathaus ganz bewusst als Tag der feierlichen Enthüllung des Denkmals anberaumt. »Der Tag der Deutschen Einheit ist ein angemessener Tag, um der Opfer der Untaten zu gedenken, ein Mahnmal für die Menschlichkeit zu setzen und sich der eigenen gesellschaftlichen Ziele der Achtung der Person zu vergewissern«, heißt es im Mitteilungsblatt der Gemeindeverwaltung. Zu der Zeremonie sollen neben Familienangehörigen von Hedwig Zipperer auch polnische Gäste und Verwandte von Marian Tomczak eingeladen werden. Bis Ende 2015 soll ein Buch über die lokale NS-Zeit erscheinen, das ein Historiker derzeit in Absprache mit der Gemeindeverwaltung erarbeitet.

Eigentlich war das erschütternde Schicksal von Marian Tomczak und Hedwig Zipperer seit Jahrzehnten nicht nur den in Althengstett lebenden Angehörigen und Nachfahren von Opfern und Tätern, sondern auch Zeitzeugen und einer historisch interessierten Öffentlichkeit bekannt. Schon in den 1980er Jahren hatte sich eine Projektgruppe an der örtlichen Realschule mit dem Leidensweg des Liebespaars und der Verfolgung anderer Menschen unter der NS-Diktatur befasst. Doch wie anderswo in der BRD der Nachkriegszeit herrschte auch im schwäbischen Althengstett jahrzehntelang schamhaftes Verschweigen vor. So wurden frühere Ansätze zur offiziellen Publikation und Auseinandersetzung mit dem Geschehen offenbar immer wieder ausgebremst.

Die jüngste Wende hin zu mehr Offenheit und einer gewissenhafteren Aufarbeitung durch eine jüngere Generation von Akteuren und Entscheidungsträgern brachte im vergangenen Jahr die Verlegung eines Stolpersteins zum Gedenken an ein jugendliches Opfer der NS-Euthanasie. Entscheidende Impulse gingen von einem örtlichen Arbeitskreis zur geschichtlichen Aufarbeitung der NS-Diktatur von 1933-1945 aus, der bereits 2013 am »Tag des unbequemen Denkmals« vor 250 interessierten Besuchern die Ereignisse um die Hinrichtung Marian Tomczaks schilderte.

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