nd-aktuell.de / 03.01.2015 / Kultur / Seite 26

Gregor Gysi, Konkursverwalter

Wolfgang Hübner

Irgendwann stieg eine junge Frau aufs Podium und drückte ihm einen Besen in die Hand. Das Bild blieb im kollektiven Gedächtnis: der kleine Mann mit dem großen Besen und ebensolcher Klappe. Gregor Gysi, der neue Vorsitzende der gescheiterten führenden Partei, sollte auskehren, aufräumen, klar Schiff machen.

Seit dem Sonderparteitag der SED im Dezember 1989 war Gysi der Hoffnungsträger der gestrauchelten Genossen. Ohne den Umsturz in der DDR hätte es ihn wohl nie in die Politik verschlagen; man weiß heute, was für ein Verlust das gewesen wäre. Denn Typen wie er sind rar im politischen Geschäft: schlagfertig, witzig, bei aller Eitelkeit immer ums Argument bemüht. Gysi ist der begeisterndste, freieste Redner, stellte Roger Willemsen bei einer Langzeitbeobachtung im Bundestag fest.

Wenn es Gysi nicht gegeben hätte, dann hätte die PDS ihn erfinden müssen. Er war in der Wendezeit, in der es für die Partei ums pure Überleben ging, die Idealbesetzung. Zuvor als Rechtsanwalt nur wenigen bekannt, horchte man auf, als er 1989, noch vor den Demonstrationen, das halbherzige neue Reisegesetz kritisierte. Er gab den Anstoß zur großen Demo am 4. November auf dem Alexanderplatz: »Mich würde interessieren, was passiert, wenn man jetzt eine Kundgebung anmeldet«, setzte er den Schauspielern vom Deutschen Theater im Herbst 1989 einen Floh ins Ohr.

Dort sprach er dann auch selbst, vor Hunderttausenden. Ein paar Wochen später war der Rechtsanwalt Vorsitzender der Fast-noch-Staatspartei, die in rasender Geschwindigkeit auf Opposition, auf Selbstverteidigung umschalten musste. Viele neue Gesichter tauchten in den Parteigremien auf; in der Außenwirkung setzte die PDS voll auf Gysi. Eines ihrer Plakate in den Wahlkämpfen des Jahres 1990: Gysis runde Brille, dazu der Slogan »Take it Gysi!«. Sonst nichts.

Die PDS hockte noch in der Schmuddelecke, da saß Gysi schon in den Talkshows. Selbst Parteitagsreporter, die politisch nicht mit ihm auf einer Linie liegen, lauschen seinen Reden angetan bis hingerissen. Was sie dann berichten, ist eine andere Frage.

Was für ein Sympathieträger für die einen: jung, eloquent, kämpferisch, vollständig anders als die alte Führungsriege der SED. Und was für ein Hassbild für die anderen: langjähriger SED-Genosse, Chef des DDR-Anwaltsvereins, Sohn eines hochrangigen Funktionärs, konfrontiert mit Stasivorwürfen, an denen sich ehemalige Mandanten und politische Gegner erfolglos abarbeiteten.

Er hat viel an inneren Widersprüchen in seiner Partei verdeckt, und viele haben sich hinter ihm versteckt. Von dem Gedanken, es möglichst allen recht zu machen, hat er sich längst verabschiedet. Keiner kann so wie er die Partei zur Ordnung rufen, keiner kann ihr so wie er die Leviten lesen. Und von keinem lässt sie es sich so gern gefallen.

Selbst als die PDS Anfang des neuen Jahrtausends am Boden lag, war Gysis Popularität ungebrochen. Er hat die Politik losgelassen, die Partei hat ihn zurückgeholt aus dem Versuch, als Anwalt und Publizist noch einmal neu anzufangen. » Der Mann ist«, befand sein Freund, der langjährige PDS-Wahlkampfchef André Brie, »fürs Privatleben viel zu schade.« Ein Riesenkompliment. Und eine riesige Zumutung.

Literatur:

Gysi trifft Zeitgenossen[1]
Was nun?[2]
Offene Worte[3]
Wie weiter? Nachdenken über Deutschland[4]
Gregor Gysi - Eine Biographie[5]
Ostdeutsch oder angepasst. Gysi und Modrow im Streitgespräch[6]
Was bleiben wird - Ein Gespräch über Herkunft und Zukunft[7]

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