Libyen und Tunesien - die Sprungbretter nach Europa

In Nordafrika ist die Migration über das Mittelmeer zu einem gut laufenden Geschäft geworden

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 4 Min.
Ab 100 Euro kann man in einen Platz auf einem Fischerboot bekommen, das die Überfahrt nach Europa ermöglicht - wenn man erst in Tunis oder Tripolis ist.

Die jungen Leute in Melassine wollen weg. Der Stadtteil von Tunesiens Hauptstadt ist eine Hochburg der Ennahda Partei. Die moderaten Islamisten waren Hoffnungsträger gegen die alte Machtelite der Nidaa Tounis Partei, die nach der Präsidentschaftswahl Anfang Januar mit einem Anti-Islamismus-Programm ein politisches Comeback feiert.

Saber Abidi hat es nicht weit bis ins Zentrum der Macht von Tunis. Der 35-Jährige ist einer der wenigen seiner Generation, die gewählt haben. »Viele meiner Freunde haben den Glauben an einen Wandel durch Demokratie aufgegeben«, sagt Saber, der als Lehrer an einer Kochschule einen der wenigen Jobs in Melassine hat.

Fast jeder hier hat schon einmal im Knast gesessen, schimpft Kais Zarouki. Saber und er verbrachten ein halbes Jahr in einer 20-Mann-Zelle, da sie auffällig häufig zum Freitagsgebet erschienen waren.

Wer kann, der verlässt Tunesien in Richtung Europa. Das ist nicht schwer, hat man erst einmal Geld für die Fahrt über das Mittelmeer aufgetrieben. Dann wählt man eine der ständig wechselnden Telefonnummern des Schleppernetzwerkes. Bereits einige Tage nach Anfrage sitzen die meisten in einem Boot im Hafen von Sfax, der Industrie- und Hafenstadt etwas weiter südlich. Rund 500 Euro kostet die Überfahrt auf einem Fischerboot nach Sizilien.

»Ich verdiene an zwei Aufträgen für die Menschenschmuggler mehr als im restlichen Jahr mit der Fischerei«, sagt Mohamed Kebussi, ein Kapitän im Traditionshafen Teboulba. Rund 100 Euro pro Kopf kassiert er für die menschliche Ware. Nach getaner Arbeit kauft er auf hoher See befreundeten Fischern deren Fang ab, um nach Einlaufen in Sfax oder Teboulba der streng kontrollierenden tunesischen Polizei nicht aufzufallen.

Experten von der Bürgerinitiative Ftdes schätzen, dass sich mehr als 500 Tunesier pro Woche nach Italien absetzen. »Dazu kommt die gleiche Zahl an jungen Menschen aus Westafrika, die oft formal als Studenten nach Tunesien einreisen«, so Aktivist Lotfy Hadj, der sich in Sfax um die Gestrandeten kümmert, die von der Schmuggelmafia manchmal über Wochen in Verstecken festgehalten werden. »Wer krank wird und kein Geld übrig hat, riskiert schon vor der Überfahrt sein Leben«, sagt er. In den letzten 14 Jahren hätten 14 000 Menschen den Fluchtversuch mit ihrem leben bezahlt.

Seitdem die EU stärkeren politischen Druck auf Tunesien ausübt, ist es für die Fischer schwieriger geworden, die Uniformierten zum Wegschauen zu bezahlen. Daher versucht die Mehrheit der arbeitslosen Tunesier, Algerier und Westafrikaner trotz Bürgerkrieg noch immer über Libyen nach Europa zu gelangen.

Die berüchtigten Seelenverkäufer, meist ägyptische oder tunesische Fischer, legen von Tripolis oder Zuwara ab, wo leer stehende Häuser an den verlassenen Sandstränden gute Verstecke für ihre »Kunden« bieten. Zu denen gehören auch vom Sinai kommende syrische Familien.

Die »Triton« genannte neue EU-Mission der Frontex-Grenzschützer bietet der mafiaähnlich organisierten Allianz genügend Schlupflöcher, um unentdeckt von Libyen an die Strände Siziliens zu gelangen. Bei der Ankunft warten oft Mittelsmänner, um die Arbeitsuchenden zu den Plantagen der Umgebung zu fahren.

Lotfi Hamde aus Melassine hat schon mehrmals für italienische Bauern gearbeitet. Immer wieder wurde er mangels Aufenthaltsgenehmigung von der Finanzpolizei zurückgeschickt. »Bis zu 20 Euro am Tag kann man in Europa verdienen, in Melassine muss ich mit 50 Euro im Monat überleben«, sagt er verzweifelt. Sobald es in Libyen wieder ruhiger wird, will er ein weiteres Mal über Zuwara nach Italien aufbrechen.

Die anhaltenden Kämpfe an der libysch-tunesischen Grenze und die zunehmende Verrohung der libyschen Milizen bedeuten vor allem für die durch die Sahara kommenden Ghanaer, Nigerianer und Kongolesen ständige Lebensgefahr. Immer wieder werden Fälle von Zwangsarbeit oder sexuelle Übergriffe in den meist von Milizen geführten Internierungslagern bekannt. Sie machen auch ein gutes Geschäft damit, Menschen aus dem nigrischen Agadez zu holen. Die Tickets für die Fahrt durch die Sahara kosten 3000 Euro. »Aus der Migration nach Europa ist in Nordafrika ein gut laufendes Geschäftsmodell geworden«, sagt Saber Abidi. »Daher ist sie kaum mehr zu stoppen.«

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