Geschichte mit Leben füllen

Gedenkstätte in Rummelsburg eröffnet

  • Celestine Hassenfratz
  • Lesedauer: 3 Min.
Es hat lange gedauert, bis die Opfer der Strafvollzugsanstalt ein Gedenken bekamen. Am Montag wurde die Dauerausstellung eröffnet.

Es gibt eine Nummer in Timo Zillis Leben, die er nie vergessen wird: 856 082. Der 70-Jährige tippt mit dem Zeigefinger an seine Stirn, »meine Nummer ist hier drin«. Zilli, geboren 1945 in Rom, ein Reisender, über Norwegen, Island, Schweden und England 1968 nach West-Berlin gekommen, wo er sich in der Studentenbewegung engagierte und als Dolmetscher für Italienisch und Spanisch arbeitete. 1970 wird Zillis Schicksalsjahr: Er ist mit Arbeitskollegen abends aus, feiern, läuft angetrunken durch den Transitbereich der Friedrichstraße, als er von der Volkspolizei aufgegriffen wird. Es kommt zu einem Gerangel, Schläge, Schreie. Ein Jahr später wird Zilli wegen »staatsfeindlicher Hetzte« und »Widerstand gegen staatliche Maßnahmen« zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Timo Zilli wird in die Strafvollzugsanstalt Rummelsburg gebracht. Dort erhält er einen neuen Namen: Nummer 856 082.

An diesem Montagmorgen steht Zilli sprachlos neben der Stele, auf der sein Bild abgedruckt ist und seine Biografie erzählt wird. Er berichtet von 42 Tagen Dunkelhaft, einem Stückchen Brot am Morgen, Wassersuppe jeden dritten Tag, von Willkür und Gewalt. Nachdem Zilli 1972 im Rahmen einer Amnestie aus der Haft entlassen wurde, hat er den Ostteil der Stadt Berlin nur noch einmal betreten. Zilli ist einer der wenigen Überlebenden, die an der Eröffnungsfeier der Gedenkstätte für die Opfer in Rummelsburg in der Kaiserzeit und Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der DDR, teilnehmen.

Die Geschichte des Areals begann 1877 mit einem preußischen Arbeitshaus. In der Kaiserzeit wurden dort Männer und Frauen inhaftiert, die als arbeitsscheu galten, diszipliniert werden sollten. Während des Nationalsozialismus wurde die Anstalt in »Städtisches Arbeits- und Bewahrungshaus« umbenannt, »Asoziale und Gefährdete aller Art« wurden dort untergebracht. Am 11. Januar 1941 wurden 30 Jüdinnen und Juden, die dort inhaftiert waren, nach Bernburg gebracht und in der Tötungsanstalt mit Gas ermordet. Rund 1500 Insassen saßen zu dieser Zeit in Rummelsburg. Bis 1951 wurden dort »schwer erziehbare Jugendliche« und Altersheiminsassen untergebracht, ab 1951 wurde das Gefängnis erneut geöffnet, die DDR inhaftierte dort »asoziale« sowie politisch Gefangene. »Warum haben sie mir das damals angetan?«, fragt Timo Zilli sich auch heute noch, 35 Jahre später.

An die Zeit als Haftanstalt erinnert auf dem Gelände nur noch wenig, die Gebäude wurden zu Wohnungen umgebaut, Familien mit Kindern leben nun hier. Dass erst jetzt ein Gedenkort errichtet wurde, ist der Nachbarschaftsinitiative »WIR erinnern«, sowie dem Museum Lichtenberg zu verdanken. Rund 250 000 Euro stellte das Bezirksamt Lichtenberg gemeinsam mit dem Senat für das Projekt, nachdem ein Runder Tisch gebildet wurde, zur Verfügung. Drei zentrale Stelen sollen an die Zeitepochen erinnern. Insgesamt wurden 21 Stelen auf dem Gelände installiert, die persönliche Biografien erzählen. Zukünftig sollen Schüler die Ausstellung besuchen sowie eine spezielle App zusätzliche Auskünfte geben. Kritik äußerte der Verein »extramural«. Die Ausstellung sei »Geschichtsklitterung«, die Einteilung in »gerechtfertigt« Kriminelle und »politisch Gefangene« in der DDR »schwarz-weißes Denken«, eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte stünde noch aus.

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