nd-aktuell.de / 16.01.2015 / Politik / Seite 2

Die Grenzen des Weltstrafgerichts

Völkerrechtler Andreas Schüller über die internationale juristische Verfolgung von Völkermord und Kriegsverbrechen

Olaf Standke
Wenn das Völkerstrafrecht auf nationaler Ebene nicht greifen kann, soll es der ständige Internationale Strafgerichtshof in Den Haag durchsetzen. Er tut es mit unterschiedlichem Erfolg.

Als in dieser Woche Sudans Staatschef Omar al-Baschir seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im April erklärte, provozierte das sofort auch die Frage nach dem Internationalen Strafgerichtshof. Nur ein Papiertiger? Schließlich wird der 71-Jährige vom IStGH wegen Völkermord in Darfur gesucht. Am Mittwoch dann die Meldung, dass ein führender Kommandeur der berüchtigten ugandischen Rebellenorganisation LRA festgenommen wurde und nach Den Haag überstellt werden soll. Zugleich sorgt der inzwischen von den Vereinten Nationen auf den 1. April datierte Beitritt der Palästinenser zum IStGH für heftige Debatten und »Strafmaßnahmen« Israels (siehe Beitrag unten). Wie also soll man die Rolle dieses ständigen Gerichtshofes bewerten?

Für Andreas Schüller ist bei einer Einschätzung der Erwartungshorizont wichtig. Wie der Völkerrechtsexperte der unabhängigen Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) im »nd«-Gespräch betont, zeigten sich bei den genannten Fällen geradezu exemplarisch Potenzial und Grenzen des sogenannten Weltstrafgerichts. Gegen al-Baschir gibt es einen Haftbefehl, »aber da der IStGH nicht über eigene Polizei oder Sicherheitskräfte verfügt, ist er auf die Kooperation von Staaten angewiesen«. LRA-Kommandeur Dominic Ongwen wurde jetzt von US-amerikanischen Spezialkräften in der Zentralafrikanischen Republik gefangen genommen; sie unterstützen die Truppen der Afrikanischen Union bei der Suche nach dem flüchtigen LRA-Chef Joseph Kony, gegen den seit 2005 ein Haftbefehl vorliegt.

»Der Strafgerichtshof hat ein Mandat, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord - in Zukunft vielleicht auch Aggressionsverbrechen - zu ermitteln und zwar gegen Angehörige von Mitgliedstaaten oder für Taten, die auf dem Staatsgebiet von Mitgliedstaaten begangen wurden«, erläutert Schüller. Das Gericht habe letztlich eine Art »Auffangzuständigkeit« und greife erst ein, wenn die Strafverfolgung - insbesondere gegen hochrangige Täter - nicht ausreichend auf nationaler Ebene erfolgt. Der palästinensische Beitritt zeige aber auch, dass Haager Entscheidungen neben der juristischen zugleich immense politische Wirkungen haben können.

Die Beitrittsmöglichkeit eröffnete sich den Palästinensern, nachdem die UN-Vollversammlung ihnen im November 2012 einen aufgewerteten Beobachterstatus als Nicht-Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen zugesprochen hatte. Die Autonomiebehörde erkannte die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für mögliche Verbrechen auf dem von ihr kontrollierten Gebiet inzwischen mit der Unterschrift unter das IStGH-Gründungsstatut an. Damit sei auch der Weg für Ermittlungsverfahren gegen israelische Politiker oder Soldaten frei, wie ein Gerichtssprecher bestätigte. Nach Angaben des Strafgerichtshofs bezieht sich die Anerkennung der Gerichtsbarkeit auf den Zeitraum seit dem 13. Juni 2014, womit auch Vorfälle während des jüngsten Gaza-Kriegs untersucht werden könnten.

Wie der palästinensische UN-Botschafter Riad Mansur nach einem Gespräch mit Chefanklägerin Fatou Bensouda mitteilte, habe »das Gericht schon angefangen, von uns vorgestellte Fälle zu prüfen«. Allerdings hat sich nun auch der Weg für Verfahren gegen Palästinenser geöffnet. Die israelische Organisation »Schurat Hadin« etwa, die Terroropfer vertritt, kündigte an, sie wolle gegen drei ranghohe Mitglieder der Autonomiebehörde vorgehen - Regierungschef Rami Hamdallah, Geheimdienstchef Madschid Faradsch und das Führungsmitglied Dschibril Radschub seien für Raketenangriffe auf Israel aus dem Gazastreifen heraus verantwortlich.

Aber auch der Weltsicherheitsrat könne Fälle überweisen, erklärt Schüller, wie etwa bei al-Baschir geschehen. Doch sei mit Blick auf die fünf Veto-Mächte im wichtigsten UN-Gremium natürlich klar, dass viele Fälle aus politischen Gründen nicht nach Den Haag gelangen werden. Die fehlende universelle Zuständigkeit des IStGH gehört fraglos zu seinen Schwachstellen, und sie beginnt schon bei Tatsache, dass ihm mittlerweile zwar 123 Staaten beigetreten sind, nicht aber die ständigen Sicherheitsratsmitglieder China, Russland und die USA oder auch wichtige Konfliktstaaten wie Israel, Iran, Indien und Pakistan. Zudem bemängeln Kritiker, dass bislang ausschließlich afrikanische Politiker und Milizenführer angeklagt und verurteilt wurden, nicht aber Verantwortliche für Kriegsverbrechen in Irak oder in Afghanistan.

Doch hier sieht der renommierte Experte für Völkerstrafrecht durchaus positive Entwicklungen. Seit die neue Chefanklägerin aus Gambia vor über zwei Jahren ihre Arbeit aufnahm, hätten sich die Ansätze sichtbar verändert. Beispielsweise seien Vorermittlungen gegen die USA wegen Gefangenenmisshandlungen und Folter in Afghanistan, zu denen Schüllers Organisation Informationen eingereicht hatte, vorangekommen. »Ein Meilenstein war aber vor allem die Entscheidung des IStGH im Mai vergangenen Jahres, Vorermittlungen wegen Foltervorwürfen in Irak gegen Großbritannien aufzunehmen. Grundlage dafür war unsere Strafanzeige vom Januar 2014.« Auch gegen Russland und Georgien wird im Zuge des Georgien-Konflikts weiter ermittelt. »Das heißt, der Strafgerichtshof prüft inzwischen auch bei Großmächten, die sich nicht seinem Statut unterworfen haben, genauso wie gegen Mitgliedsländer wie Großbritannien, wenn man dort nicht gewillt ist, Verbrechen eigener Staatsangehöriger im Ausland aufzuklären.«

Dabei dränge das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte darauf, nicht nur endlos zu prüfen, sondern möglichst schnell offizielle Ermittlungen aufzunehmen. Trotzdem dauerten solche Verfahren meist mehrere Jahre. Zur Zeit gebe es insgesamt acht Vorermittlungen und acht Ermittlungsverfahren. »Das ECCHR wird diesen Prozess weiter kritisch begleiten, um die erfreuliche Tendenz zu stärken. Eine Erfolgsgarantie aber gibt es nicht«, so Andreas Schüller gegenüber »nd«.

Andreas Schüller ist Leiter des Bereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Er hat Rechtswissenschaften in Trier und Orléans (Frankreich) studiert und hält einen Master of Laws der Universität Leiden (Niederlande) im Völkerrecht mit Spezialisierung im Völkerstrafrecht.