Jetzt geht es nicht um noch mehr Waffen

Die Europaabgeordnete Cornelia Ernst appelliert: Irakisch-Kurdistan braucht dringend humanitäre Hilfe

  • Lesedauer: 5 Min.

Sie sind mit drei Abgeordneten anderer Fraktionen des Europaparlaments ins kurdische Autonomiegebiet in Irak gereist. War Ihnen denn bewusst, dass sich gleichzeitig die deutsche Verteidigungsministerin dort aufgehalten hat?

Nein. Als wir das Lager in Khanke bei Dohuk verließen, muss wohl Frau von der Leyen angekommen sein. Es gab ziemlichen Trouble dort. Soviel ich weiß, hat sie aber nicht mit Flüchtlingen gesprochen, so wie wir, oder ist zumindest mal durchs Lager gegangen.

Bei Ihnen war das anders?

Wir wollten und haben uns nicht so abschirmen lassen, dass man mit keinem »normalen« Menschen dort reden konnte. Auch deswegen war unsere Reise informell. So waren wir freier im Umgang und konnten zusammen mit den kurdischen Kolleginnen und Kollegen wirklich mit den Leuten sprechen. Darum ging es. Und nicht um Begegnungen mit irgendwelchen Autoritäten.

Wie sind Sie denn nach Kurdistan gereist?

Ganz normal. Es gibt Direktflüge von Wien nach Erbil, dem Verwaltungszentrum.

Wie man von der Verteidigungsministerin erfuhr, ging es bei ihren Gesprächen im wesentlichen um Waffenlieferungen. Diese Woche wurde mitgeteilt, dass Deutschland zum Beispiel nach Irakisch-Kurdistan für 70 Millionen Euro Waffen exportiert hat. Die Kurdenführung fordert jetzt dem Vernehmen nach weitere, zum Beispiel auch panzerbrechende Waffen. War das auch für Sie ein Gesprächsthema?

Nein, wir hatten einen anderen Ansatz und haben auch andere Antworten erhalten. Nehmen wir die Begegnung in einer der religiösen Hochburgen der Jesiden in Lalisch, 60 Kilometer nördlich der Millionenstadt Mossul. Als uns dort einer sagte »Wir brauchen Waffen«, erwiderte ihm einer seiner religiösen Mitbrüder: »Hör mal zu, wir können doch gar nicht damit umgehen ...«

Damit will ich sagen: Die Waffenfrage hört man meist von der Regionalregierung. Die »kleinen Leute« haben völlig andere Probleme. Die sagen, was wir jetzt brauchen, sind Unterkünfte. Das hat alle unsere Gespräche geprägt.

Welche Wünsche hat man an sie gerichtet?

Egal, wo wir waren - immer wurde gesagt, wir wollen hier in Irak bleiben, aber wir müssen hier eine Existenz bekommen. Es gibt schon unendlich viele Waffen in der Region. Die irakische Regierung, die irakische Armee wurden in den vergangenen Jahren von westlicher Seite hochgerüstet, haben aber total versagt und den Milizen des Islamischen Staates (IS) diese Waffen mehr oder weniger überlassen. Ich sage es noch einmal: Die Hauptfragen sind wirklich ganz ganz andere. Man muss nur mit den Leuten reden, um sie zu erfahren.

Die kurdische Regionalregierung sagt, sie bräuchte unbedingt Waffen zur Selbstverteidigung gegen den IS und - wie jetzt hinzugefügt wird - den Terror, der sich nun in Frankreich zeigt. Da ist man sehr schnell auf aktuelle Gegebenheiten eingegangen. Sie selbst wollen dieser Logik aber nicht unbedingt folgen?

Ich finde, das ist zu einfach: Waffen her und fertig. Ich denke, es geht dort heute vor allem um humanitäre Fragen. Darum wollen wir uns auch kümmern.

Mir ist auch wichtig, einen bei den Jesiden oft gehörten Vorwurf wiederzugeben: Die Peschmerga, die kurdischen Kämpfer, haben uns im Stich gelassen. Eine Reihe von Leuten hat uns gesagt: »Wir haben die Leute angerufen, haben vergeblich um Hilfe gebeten. Diese haben wir dann von anderen gekriegt, von der PKK. Die haben uns freigeschossen.« Ich bin sicher, dass die Waffenfrage jetzt nicht die entscheidende ist.

Es gibt zum Beispiel 26 Dörfer der Jesiden, die dicht an der momentanen Frontlinie zum IS liegen. Männer wurden abgeschlachtet, Frauen versklavt. 5000 Frauen allein bei den Jesiden!

Auch Kinder. Jungen sind in islamistische Schulen gesteckt worden. Von dort aus wurden an ihre Eltern Bilder geschickt mit der Botschaft: Ja, wir haben sie. Die Frauen wurden nach Saudi-Arabien, Usbekistan und andere muslimische Regionen verkauft, wurden versklavt in arabischen Haushalten, in vielen Fällen vergewaltigt.

Was erwarten sowohl die Autoritäten als auch die Menschen jetzt konkret von der Europäischen Union?

In Irakisch-Kurdistan gibt es 5,2 Millionen Einwohner, dazu kommen zwei Millionen Binnenflüchtlinge, außerdem syrische Flüchtlinge. Es gibt riesige Lager. Kurdistan war und ist die einzige Region, wo die Minderheiten auf der Flucht vor dem IS tatsächlich hingehen können. Sie hatten keine anderen Zufluchtswege - außer nach Kurdistan.

Allein in der Region um die Stadt Dohuk gibt es 20 große Zeltlager. Dort mussten innerhalb von 14 Tagen etwa 65 000 Menschen aufgenommen werden. Vor dieser Leistung habe ich großen Respekt. Die Menschen dort haben es einfach gemacht und gesagt: Wir können die Leute ja nicht wegschicken.

Hier muss für mich die internationale Hilfe ansetzen. Die Menschen frieren. Es herrscht jetzt auch dort Winter mit Minusgraden. Die Menschen brauchen also vernünftige Unterkünfte, brauchen zu essen, brauchen Bildung. Vor allem die Kinder haben momentan gar keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Das ist die Aufgabe, zur deren Lösung internationale Unterstützung gebraucht wird. Da kann man nicht sagen: Europäische Union, mach mal was. Das braucht das Engagement der Mitgliedstaaten. Es geht um das schiere Überleben von ethnischen und religiösen Minderheiten wie den Jesiden.

Wollen Sie das im Parlament vorbringen?

Das haben wir jetzt gemacht. Wir haben auch einen Brief an die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini gerichtet mit der Forderung, dass es hier Unterstützung geben muss. Die Menschen haben Unglaubliches durchgemacht und erleiden es immer noch.

Dennoch, es ist überhaupt nicht so, dass die alle nach Europa wollen. Sie wollen dort leben. Aber dafür muss man mit europäischer Hilfe Voraussetzungen schaffen.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal