Etwas ist schiefgelaufen im Staate Frankreich

Premierminister räumt Apartheid und Ghettoisierung ein / Valls verweist nach Anschlägen auf Probleme in Vorstädten der Metropolen

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
In Frankreich gibt es laut Premierminister Valls »territoriale, soziale und ethnische Apartheid«. Dies sagte er mit Blick auf die einwanderungsgeprägte Bevölkerung in den Problemvorstädten.

Als nach den jüngsten Terroranschlägen von Paris am daraufhin ausgerufenen Nationalen Gedenktag im ganzen Land eine Schweigeminute für die Opfer eingelegt wurde, haben sich an mehr als 100 Orten einzelne Schüler oder ganze Klassen geweigert, daran teilzunehmen. Als am darauf folgenden Wochenende landesweit mehr als vier Millionen Menschen gegen islamistischen Terror und für ein friedliches Zusammenleben auf die Straße gingen, nahmen an diesem Republikanischen Marsch auffallend wenig Franzosen ausländischer Herkunft aus den Vorstädten teil.

Im Internet grassieren die abenteuerlichsten Verschwörungstheorien über angeblich inszenierte Taten wie 2001 nach dem Anschlag auf die Twin Towers in New York. Vieltausendfach bekennen vor allem Jugendliche über Facebook trotzig »Ich bin nicht Charlie«, oder sie begrüßen sogar die Mordorgie der Brüder Kouachi in der Redaktion des Satiremagazins »Charlie Hebdo« und die Morde der Geiselnehmers Coulibaly. »Mit ihren Karikaturen des Propheten Mohammed haben sie das selbst herausgefordert«, heißt es immer wieder entschuldigend.

Dass Gotteslästerung in Frankreich nicht unter Strafe steht und man die Regel des islamischen Rechts nicht auf die laizistische, allen Religionen gegenüber neutrale französische Gesellschaft übertragen kann, wissen diese Jugendlichen nicht oder wollen es nicht wahrhaben. Hinsichtlich der Ursachen für solche Taten verweisen sie auf die Diskriminierung und Chancenlosigkeit vor allem junger Menschen ausländischer Herkunft. Immer mehr Franzosen dämmert, dass da in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten etwas schiefgelaufen ist in der Gesellschaft und dass dringend umgesteuert werden muss.

Das räumt jetzt auch Premierminister Manuel Valls ein, der am Dienstag auf dem Neujahrsempfang für die Presse bemerkenswert offene Worte fand. Die blutigen Taten fanatischer islamistischer Attentäter hätten deutlich gemacht, »an welcher Krankheiten unser Land leidet«, erklärte er.

»Die Abschiebung von immer mehr benachteiligten Menschen in die Vorstädte und die Entstehung regelrechter Ghettos hat zu einer territorialen, sozialen und ethnischen Apartheid geführt«, gesteht Valls ein. »Zur sozialen Misere kommen tagtägliche Diskriminierungen, weil man nicht den richtigen Namen oder die richtige Hautfarbe hat oder weil man eine Frau ist.«

Er sei überzeugt, dass man zur Losung der Republik »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« eigentlich auch Laizismus, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sowie Respekt vor Recht und Ordnung hinzufügen müsste. »Der Kampf für Laizismus, für die Trennung von Religion und Staat ist vernachlässigt worden«, ist Valls überzeugt. Themen wie die Trennung von Religion und Staat oder wie nationale Identität dürften die Linken nicht den Rechten überlassen. Die Messlatte für die Integration in die Gesellschaft müsse höher gelegt werden. Franzose zu sein, bedeute nicht nur, die Gesetze zu respektieren, sondern auch die Meinung und Kultur von Menschen anderer Überzeugungen oder Religionen.

Die Schule sei mehr denn je gefordert, den Kindern und Jugendliche diese Grundprinzipien von Laizismus und Toleranz zu vermitteln. Gleizeitig gestand der Premier ein, dass zu der heutigen dramatischen Situation nicht nur »gedankliche Nachlässigkeit«, sondern auch die drastische Sparpolitik vergangener rechter wie linker Regierungen beigetragen hat. Er versichert, dass er diese Erkenntnis beherzigen und für die Einleitung entschlossener Reformen und für die Bereitstellung der dafür nötigen Mittel sorgen wird.

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