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Am Anfang war das Wort?

»Die taube Zeitmaschine« für Gehörlose und Hörende im Ballhaus Ost

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie stampfen auf, wenn ein Szenenwechsel ansteht. Das nehmen alle wahr - die gehörlosen, die tauben und die hörenden Darsteller. Gemeinsam studierte Possible World e.V. unter der Leitung von Michaela Caspar in Kooperation mit dem Ballhaus Ost seine Inszenierung »Die taube Zeitmaschine« in Gebärdensprache, lautsprachbegleitenden Gebärden und Lautsprache ein.

Dem 1980 gegründeten, in Zehlendorf ansässigen Verein geht es um Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität, Herkunft oder Generationen, um die Arbeit mit Gehörlosen und Hörenden. Mit der grenzenlosen Möglichkeit, sie alle einzubeziehen, entstehen künstlerische Projekte, insbesondere Theaterproduktionen. Gemeinsam Wissen über den anderen zu vermitteln, nicht schauspielerische Perfektion, ist das Ziel. Wobei man über »Die taube Zeitmaschine« für Gehörlose und Hörende sagen kann, dass sie in guter Regie logisch aufgebaut und von allen Beteiligten diszipliniert einstudiert wurde. Das ist hier die Kunst. Die Erkenntnis bringend, so vieles über andere nicht zu wissen, kann sie einem bis ins Mark dringen.

Ja doch, man sieht in der Stadt unterwegs sich in Gebärdensprache Verständigende und nein, verrenkt sich nicht den Hals, muss höchstens sofort Fragen von begleitenden Kindern dazu beantworten. Das war’s dann auch. Die neue Inszenierung aber reißt einen Vorhang weg.

Das 150-minütige Stück ohne Längen teilt sich in Kapitel. Die acht gehörlosen und vier hörenden Akteure widmen sich dem Schicksal Tauber und Gehörloser vor Hunderten von Jahren. Sie errichten dem Abbé de L’Epée ein Denkmal. Er gründete 1771 in Paris die weltweit erste Schule für Taube und unterrichtete die Zeichensprache. Später wurde sie verboten, weil man Betroffene zum Sprechen zwingen wollte. Erst seit 2002 haben gehörlose Menschen in Deutschland durch das Behindertengleichstellungsgesetz Anspruch auf Gebärdensprachdolmetscher in öffentlichen Institutionen, bei der Polizei, bei Gericht, am Arbeitsplatz.

Einen anderen Sockel stürmen die Darsteller. Sie stoßen einen Prediger von der Kanzel, erzürnt über die Behauptung »Am Anfang war das Wort ...«, derer sich selbst ernannte Himmelsstellvertreter bedienen und somit Nichthörende ausschließen. Beklemmend sind in ihrer Wirkung durch das Spiel unterstützte Bilder aus einer belgischen Anstalt um 1900. Von Prügel ist auch später die Rede.

Erschütternd ist das Kapitel Verfolgung. Junge Darsteller befragten taube Seniorinnen. Ihre Mutter sei sterilisiert worden, nachdem sie geboren worden war, erzählt Frau S. im Videofilm. Deren taube Schwester ebenfalls. »Mit 23 Jahren ist sie gestorben. Sie wurde in der Nazizeit eingeschläfert. Ja, mit 23, so war das.«

Aktuelle Konflikte werden im Stück thematisiert. Die selbstbewussten Akteure sehen sich nicht als Leidende. Doch welche Probleme bringen Partnerschaften zwischen Tauben und Hörenden? Wie ordnet man als Hörender ein, dass ein taubes Elternpaar Zehntausende Euro aufbringt, um seinem hörenden Kind mit einer im Ausland möglichen Operation das Gehör zu nehmen? Und wie würde man selbst entscheiden, ob das eigene Kind ein Cochleaimplantat (Ci) bekommen soll, das eine komplizierte Operation erfordert und ein noch vorhandenes Resthören für immer liquidiert? Zwei der Darsteller trugen welche, andere wiederum Hörsysteme.

Probleme, von denen Hörende, die nicht damit direkt konfrontiert sind, kaum etwas wissen. Dabei ist zumindest Schwerhörigkeit durchaus ein Phänomen unserer Zeit. Außer taub oder schwerhörig Geborenen oder Menschen, die durch Krankheit oder Unfall ihr Gehör verloren, leide jeder zweite Deutsche über 60 Jahren unter Schwerhörigkeit, heißt es. Betroffene nähmen das zur Kenntnis, um aktiv am Leben teilzuhaben - oder auch nicht.

Die Zuschauerzahlen sprechen von großem Interesse für das Stück. Die ersten drei Vorstellungen waren ausverkauft. Ungewöhnliche Ruhe herrschte vor der Premiere im Ballhaus Ost. Die Community hatte sich eingestellt. Nach der Vorstellung sensibilisiert, fällt einem der Lärm in der U-Bahn besonders auf. Warum brüllen eigentlich alle so herum? Haben sie sich mehr zu sagen? Kaum.

23.-25.1., 20 Uhr, Ballhaus Ost, Pappelallee 15, Prenzlauer Berg, Kartentel.: (030) 44 03 91 68, www.ballhausost.de

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