Amazonas am Bodensee

»Schreiben und Leben« - die Tagebücher von Martin Walser 1979 bis 1981

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Tagebuch ist ein Verräter. Es bleibt keiner Sache treu. Es wechselt Stimmung und Sinn. Es verrät das Große an das Kleine, das Hohe an das Niedrige, das Kindliche an das Klügelnde, das Wichtige an das Wichtelmännische. Und umgekehrt. Es legt offen: Das Leben ist Turbulenz und Gleichförmigkeit in einem. Der Alltag versucht sich als Ereignis, aber das Ereignis bleibt doch letztlich auch nur Partikel einer sich lang hinziehenden Kette von Wiederholungen.

»Leben und Schreiben« hießen die bisherigen drei Tagebuchbände von Martin Walser, nun geht es um die Jahre 1979 bis 1981 - unter dem Titel »Schreiben und Leben«. Es sind schriftstellerische Erfolgsjahre (mit entwaffnend nüchterner Charakterisierung des Publikums bei Lesungen: »Zu mir kommen die, die wie ich sind, die Verkrampften«). Einmal mehr erweist sich Walser als ein grandioser Romancier der eigenen Existenz: Das Gütige und das Gefräßige, das Transzendente und das Triviale, das Gockelhafte und das Demütige, die Geldfragen und die Geltungsmühen, das Peinvolle und das Peinliche - all das bildet ein übergreifendes, die Zeiten durchwurzelndes Geflecht der Gleichzeitigkeit. Der Autor bleibt, in aller Ausbildung von Verschiedenartigkeit in wechselnden Situationen, doch unentrinnbar ein Festgelegter. Walser schreibt, wie sehr ihn dies beruhigt, denn Festlegung entlastet von Neuorientierung, aber es zieht auch nieder: ach, so früh schon so alt.

Zu erleben: der Schriftsteller als ein melancholisch Klagender und frohgemut Berauschter, ein ungehemmter Plauderer und gezielter Polemiker - er prunkt mit seinen Schwächen und badet grinsend in Selbstgewissheit. Mal Kühle, die von einem Gewebe aus Scharfsinn eingehüllt ist, mal panzerlose Verletzlichkeit. Immer ist Walser so radikal selbstbekennerisch, dass im Mittelpunkt die Angreifbarkeit steht, die Unsicherheit, die Haltlosigkeit zwischen den Widersprüchen.

Das Buch ist eine einzige Zitierverführung: »Der normale Wahnsinn als das Produkt aus Wetter, Nerven und Arbeit. Nichts als Unverhältnismäßigkeit.« Oder: »Die Menschen wohnen schlecht. Viel besser wohnen die Waren. Am besten wohnt das Geld.« Oder: »Der Kapitalismus kann der Welt nicht helfen. Der Kommunismus kann nicht einmal sich selber helfen.« Oder: »Jedem sind die Grenzen des anderen deutlicher als seine eigenen. Deshalb ist es keine Kunst, Kritiker zu sein. Aber nach den eigenen Grenzen suchen, das ist ein Abenteuer wie die Erforschung des Amazonas oder des Nordpols.« Oder: »Ich glaube an nichts, ohne dadurch auf das Gegenteil hingewiesen und verpflichtet zu werden.« Oder: »Jetzt lernen wir, wo Kabul liegt, wie wir vor zehn Jahren lernten, wo Hanoi liegt. Damals hieß der Lehrer USA, jetzt heißt er UdSSR.«

Wenn Walser etwas »lehrt«, dann bleibt es auch in diesen Tagebüchern dies: Sprache ist das wertvolle Vermögen, das mit jedem gefundenen Wort doch wieder versiegt. Sprache ist ihm heilig, nicht eilig. Literarisches Schreiben heißt: Sprache schützen, sie nicht in den Galopp von etwas Zugerichtetem werfen, das man Meinung nennt (oder »Diskurs«). Und ehrlich schreiben heißt: gefährdet bleiben, denn kein Mensch ist gefährdeter als jener, der schreibend ganz bei sich selbst bleiben will. Und dabei trotzdem erfahren muss, was Entfremdung ist: »Jeder ist verpflichtet, etwas zu nützen. Das ist die Grenze der Freiheit. Allein ist er nichts. Also gehört er dazu. Das Dazugehören heißt, dass er etwas tun muss, wovon andere etwas haben. Davon kann sich keiner freisprechen.«

Es ist im Buch der ganze Walser drin. Er ist dem Vorwurf des Nationalismus ausgesetzt, etwa von Jürgen Habermas, und er schreibt: »Seit ich die deutsche Teilung öffentlich unerträglich nenne, nennt mich jeder Linke nationalistisch.« Diesen Beißern sind die Zähne längst ausgefallen. Bei der Eröffnung einer Ausstellung mit Zeichnungen von KZ-Häftlingen sagt er: »Ein einziges Bild aus einem KZ, und wir haben nichts zu sagen.« Er bekräftigt: »Ich war nie der Meinung, dass Auschwitz von einzelnen Tätern verantwortet werden kann. Das kann nur national getragen werden.«

Man liest das und denkt wieder an jene, die Walser so ausdauernd brauchen (ohne ihn wirklich zu lesen), um ihr antideutsches Gemüt mit bloßer Behauptung und bellender Beharrung gegen diesen Gewissenhaften zu füttern. Walser hatte nie ein geschädigtes Deutschland vor sich, er hat es in sich. Nicht: Ich weiß, sondern: Ich leide. Und zwar an etwas Unhaltbarem, daran er beteiligt bleibt. Gedenken, Erinnern - statt Pose: Suche nach Schwächebeweisen. Also: Bitte weniger Verlogenheit in dem, was wir gesellschaftlich für erreicht halten. Härter hineinleuchten in die Nachtseite der Aufklärung, wo wir ehrlicher sind als auf Podien und Parteitagen. Die Zeit abgewirtschafteter Kollektivitäten fordert mehr denn je die konzentrierte Rückbesinnung des Einzelnen auf sein Gewissen. Wenig sei das? Wer aber hat wirklich Greifendes zu bieten? Denkmalbauer? Sonntagsredner? Linke? Schweiger? Deutschland-Schönredner? Deutschlandhasser?

Walser schreibt über sich, und er notiert schriftstellerische Entwürfe. Das Tagebuch als Einblick ins literarische Vorstufen-Universum. Irgendwann weiß man nicht mehr, was ist da Walsers Leben, was ist die Welt seiner Prosa; das Fiktive ist womöglich das Wahre; und alles, was wirklich scheint, wird vielleicht erst durch Erzählung wahr. In einem Essay, »Die Hingeschriebenheit«, hatte Walser »Über eine mögliche Unschuld der Tagebücher« nachgedacht. Er nennt das im Tagebuch Notierte »unverbesserlich«. Es sei etwas Unwillkürliches, vielleicht kann man das auch den Atem der Worte nennen, Atem ist keinem Willen unterworfen, er geschieht, er ist die wahre, ursprüngliche Lebensart. Das Hingeschriebene, so Walser, sei ebenfalls keinem Willen unterworfen, es habe keinen Adressaten - im Gegensatz etwa zum »Aufgeschriebenen«, das den Schreibenden stabil erscheinen lässt, indem dieser sich formulierend strafft, indem er bewusst eine Vollkommenheit der Formulierung anstrebt, sich sozusagen, für eine Leserschaft, gesellschaftsfähig macht.

Wir lesen vom Schwimm-Ehrgeiz. Vom Entwürdigungskrieg Siegfried Unselds gegen dessen erste Ehefrau, Unseld stöhnt, »schnarchen tue sie auch«. Wir lesen von straffer Sportiv-Sucht auf Skipisten. Überhaupt herrscht Konkurrenzplage bis hinein in die Gesellschaftspartys, »das ganze Gerede ist ungeheuer leicht, und jeder glaubt, sich dabei auszeichnen zu können. Jeder erhofft sich etwas.«

Da ist der traurige, betrunken hilflose Uwe Johnson, da ist der einfach nicht für günstige Urteile vorgesehene Marcel Reich-Ranicki, da ist der feierbegabte Enzensberger. Und vor allem und immer wieder: das Familienleben am Bodensee, mit der großartig geduldigen Frau Käthe, den vier Töchtern und deren Fragen nach den diversen Freundinnen des Vaters. Dann seine Reise in die DDR: wie ihm nachts in einem Hotel der proletarische Standpunkt klargemacht wird - »Du bist deiner Klasse mehr Treue schuldig als deiner Frau.« Und das Erlebnis Werner Tübke. »Tübke als Rektor auf allen vieren die Uni-Treppe hinaus. Das würde er jeden Tag so machen. Er wollte, dass er abgelöst werde, und wurde abgelöst.«

Mit seinen Tagebüchern zwischen Angriffslust und Ironie, zwischen Selbsternennungen und Selbstbezichtigungen, zwischen ungeschminkter Offenbarung und raffinierter Verkleidungskunst wird Martin Walser am Ende eine neue Art von Autobiographie vorgelegt haben: eine verblüffend schöne, rücksichtslos poetische Kreuzung aus profaner Erinnerung und anmutig fortschreitendem Denken. Und rührender psychischer Fantasie: »Ich möchte mit gesenktem Kopf weit sehen, und es sollte warm sein.« Und bestechender Psychologie: »Man antwortet nicht als der, der man ist, sondern als der, der gefragt wurde. Das ist der, der man ist, plus der, der man durch die Frage wird.« Dichter ist die hässlich festnagelnde Mediengesellschaft nicht porträtierbar. 1980!

Auch dieses vierte Buch liest sich als immerwährender Versuch eines Schriftstellers, Wahrhaftigkeit auf die Spitze zu treiben - also: als könne man Glück und Unglück in einem einzigen Satz so aussprechen, dass beider Nähe zueinander ebenso fasslich würde wie beider Unvereinbarkeit. Unerfüllbar dieser Wunsch. Aber er füllt ein Leben. Und verschlägt es in die Sprache. Walsers notiertes Gedächtnis, in dieser schillernden Einheit von Unmittelbarkeit der Wahrnehmung und literarischer Erhobenheit, gehört zum Ergreifendsten, zum Perlendsten, was die moderne Tagebuchliteratur bietet. Ein Dichter im Selbstgespräch mit seinem Leben, das Schreiben heißt. Mit seinem Schreiben, das zur Art wurde, das Leben zu träumen, zu treiben, zu tragen, zu tilgen.

Martin Walser: Schreiben und Leben. Tagebücher 1979-1981. Rowohlt Verlag Reinbek. 704 S., geb., 26,95 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal