Eine Truhe voller Schätze

Mons in Belgien ist ab 24. Januar Europas Kulturhauptstadt 2015

  • Robert B. Fishman
  • Lesedauer: 6 Min.

Menschen ins Gespräch bringen wollte der flämische Künstler Arne Quinze mit seiner 16 Meter hohen und 85 Meter langen Holzkonstruktion »The Pessenger« in der Europäischen Kulturhauptstadt 2015, in Mons. Das ist ihm gelungen. Tagelang berichteten Zeitungen, Radio und Fernsehen über das leuchtend rote Lattendach, das Weihnachten teilweise eingestürzt ist. Jetzt musste es wegen Sicherheitsmängeln komplett abgebaut werden. Dennoch sind die Kulturhauptstadtorganisatoren in Mons bester Hoffnung, dass das Jahr ein Erfolg wird. Mehr als 300 Veranstaltungen, darunter 20 große Ausstellungen wird es unter dem Motto »Technology meets Culture« geben. 68 Millionen Euro wurden investiert.

Vincent van Gogh, der ursprünglich Pfarrer werden wollte, entdeckte in Mons sein Maltalent. Ihm ist eine große Ausstellung unter dem Motto »Van Gogh im Borinage - die Geburt eines Künstlers« gewidmet.

Moderne Kunst gedeiht in Mons auf ehemaligen Zechen, in verlassenen Fabriken und auf Baustellen: Stararchitekt Santiago Calatrava entwarf für die rund 90 000 Bewohner der Europäischen Kulturhauptstadt 2015 und die erwarteten vielen Besucher den neuen Bahnhof, Daniel Libeskind das neue Kongresszentrum.

Mehr als 500 Projektvorschläge schickten die Bürger aus Mons und Umgebung an die Stiftung, die das Programm organisiert. 22 davon wählte sie aus. Emanuel Vinchon kümmert sich um die, die abgewiesen wurden.

»Wir reagieren auf jede Beschwerde«, versprach er in Vorbereitung des Festes. »Wir bitten die Leute, uns zu sich ins Viertel einzuladen, bringen Essen und Getränke mit und hören zu.« Dann helfen die Kulturhauptstadt-Manager den Bewohnern, eigene Projekte zu entwickeln. »Kulturmacher müssen sich für die Leute interessieren, nicht umgekehrt«, findet Vinchon. Umsonst war die Mühe nicht. Mehr als 1000 Leute haben sich als ehrenamtliche Botschafter und Mitarbeiter der Kulturhauptstadt bei der Stiftung gemeldet.

An einem Stand auf der Grande Place verkauft ein kräftiger Mann mit langen grauen Haaren dunkelblaue T-Shirts mit der Aufschrift »Les Montois ne periront pas«. (Die Monser werden nicht vergehen). Der Glockenturm, der die Hemden ziert, erinnert an den ständigen Machtkampf mit den Stiftsdamen der Heiligen Waltrudis, den Chanoinesses de Saint Waudru. Mit ihrem Kloster hatten die eigenwilligen Damen einst auf einem Hügel zwischen den Flüssen Haine (Hass) und Trouille (Furcht) den Grundstein der Stadt gelegt. Der einflussreiche Orden mit besten Beziehungen in Europas Königshäuser gehörte erst zu den Benediktinerinnen, dann zu den Augustinerinnen. Später gingen die Schwestern eigene Wege. Die Bürger, mit Handel, Holzverarbeitung, Bier und Stoffen reich geworden, wollten mitbestimmen. Nach dem Einsturz des ersten Glockenturms stritten sie mit den Stiftsdamen jahrelang um die Zeiten, zu denen die Glocken eines neu zu bauenden Turms läuten sollten. Schließlich errichtete die Stadt im 17. Jahrhundert ihren eigenen Belfried. Teuer und weithin sichtbar zählt der einzige Barockglockenturm Belgiens inzwischen ebenso zum Weltkulturerbe wie das ehemalige Zechengelände Grand Hornu, der prähistorische Steinbruch in Spienne und das Stadtfest Ducasse, das die Einheimischen Doudou nennen.

Jedes Jahr nach Pfingsten feiern es die Monser eine Woche lang im mittelalterlichen Stil mit einem Prozessionsspiel, das den Kampf des heiligen Georg mit dem Drachen zeigt. Im Jahr 2005 wurde die Veranstaltung von der UNESCO in die Liste der »Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit« aufgenommen. In diesem Jahr wird es einer der Highlights des Kulturhauptstadtjahres sein. Höhepunkt wird Samstag, der 31. Mai sein, an dem die Prozession stattfindet, an der rund 1500 Menschen aktiv teilnehmen werden.

Beginn des Festes ist am Mittwoch zuvor. Am Abend sammeln sich Hunderte im Wohnzimmer der Stadt, dem von Cafés, Kneipen und Bars gesäumten Großen Platz im Herzen der Altstadt. Aus Boxentürmen dröhnt Musik. Viele tanzen auf der Straße. »Vive nous, vive vous, vive le Doudou« (Hoch leben wir und ihr und das Doudou) singen sie Arm in Arm.

Am Samstagabend strömen Honoratioren, einfache Bürger und Geistliche in die Kirche Sainte Waudru. Die vollen Klänge der Orgel füllen das weite gotische Kirchenschiff. Behelmte Männer in mittelalterlichen, schwarz-gelben Uniformen stehen mit Hellebarden in der Hand Spalier.

»Diesem magischen Moment kann sich kaum jemand entziehen«, sagt der Pfarrer im gold-weißen Ornat, bevor er dem Bürgermeister symbolisch für ein Wochenende die Reliquie der Stiftsgründerin Waltrudis übergibt. Weil sie im 7. Jahrhundert Wunder vollbrachte und ein Kloster gründete, sprach die Kirche sie heilig. Drei Bauern, die zu Unrecht verhaftet worden waren, befreite Waudru der Legende nach mit Gebeten von ihren Ketten.

Zu Orgelklängen seilen kräftige Männer in grünen Gewändern den Schrein mit den Gebeinen der Heiligen Waudru bedächtig ab, hieven ihn im Weihrauchnebel auf eine Sänfte und tragen ihn durch die Kirche. Ernste Gesichter beobachten die jährlich gleiche Prozedur. Der Kirchenchor singt zu den Klängen der Orgel, auf der Bach, Händel und heimische Lieder gespielt werden.

Nach der »Descente de la Châsse« genannten Aufbahrung der Reliquie auf ihrem gold-weißen Prunkwagen folgt am Sonntagmorgen die Prozession durch die Stadt. Zu Tausenden drängen die Menschen auf die Grande Place. Das Spektakel folgt einer 500 Jahre alten Choreografie. Alle Figuren und jede Handlung hat ihre symbolische Bedeutung: In einem mit Sand aufgeschütteten Kreis in der Mitte des Platzes kämpft der Heilige Georg gegen den Drachen. Teufel schlagen mit Gummikeulen auf die Helfer des Heiligen Georg ein. Der von zwölf weiß gewandeten kräftigen Männern getragene Drache mit einem rund fünf Meter langen Schwanz dreht sich gegen den Uhrzeigersinn. Sankt Georg, hoch zu Pferd, hält mit seinem Schwert dagegen. Immer wieder senken die Drachenträger den Schwanz des Ungeheuers in die johlende Menschenmenge, aus der Dutzende Hände nach dem schwarzen Büschel am Ende des Schweifs greifen. Ein Haar daraus soll Glück bringen.

Drei Mal versucht der Heilige Georg, den Drachen mit einer Lanze zu töten. Unter den Schreien der Menge zerschellt die Waffe am grünen Panzer des Tiers. Schließlich reicht eine rothaarige Frau im feuerroten Kleid einem Polizisten eine Pistole. Dieser gibt sie an den Heiligen weiter, damit er das Ungeheuer zur Strecke bringt.

»Eine Truhe voller, versteckter Schätze«, nennt Stadtführerin Catherine Stilmant Mons mit seinen versteckten Stadtvillen reicher Bürger und Ordensschwestern. Rund um die Grande Place, den Marktplatz mit seinem gotischen Rathaus und den verzierten Fassaden aus fünf Jahrhunderten sind zahlreiche historische Häuser erhalten geblieben - jedes genau fünf Meter breit. Bis ins 18. Jahrhundert bemaß sich die Steuer für die Besitzer nach der Breite des Gebäudes. So türmte man Stockwerk um Stockwerk auf schmale Fundamente. Innen führen schulterenge Holztreppen steil nach oben. Große Menschen müssen den Kopf einziehen, um sich nicht an den niedrigen Decken mit den dunklen Holzbalken zu stoßen. Draußen gehen sie dann wieder erhobenen Hauptes, die stolzen Monter.

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