Schulpolitischer Flickenteppich

Vor knapp zehn Jahren stellten die ersten westdeutschen Bundesländer auf das Abitur nach zwölf Schuljahren um. Jetzt rudern einige von ihnen wieder zurück. Von Jürgen Amendt

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Die Lage ist verzwickt. Folgt man den Meinungsforschern, dann ist eine Mehrheit der Deutschen gegen die auf acht Jahre verkürzte Gymnasialzeit (G8). So kam Anfang 2013 das Institut Forsa zu dem Ergebnis, dass 72 Prozent der Eltern eine Rückkehr zum G9-Gymnasium wünschen. Von Elternverbänden wird diese Forderung damit begründet, dass der Lerndruck im G8 zu hoch sei und die Leistungen der Schüler darunter leiden würden.

Dem allerdings widersprechen Studien wie z.B. die Lernstandserhebung KESS (»Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern«) in Hamburg. 2012 stellte KESS fest, dass die G8-Schüler der Hansestadt bessere Ergebnisse als G9-Schüler erzielen. Bildungsforscher sprechen sich ebenfalls gegen eine Rückkehr zum G9 aus. Dies würde u.a. die »schulinterne Weiterentwicklung« erschweren und Schüler wie Lehrer verunsichern, mahnten im Juni vergangenen Jahres 30 namhafte Wissenschaftler, darunter der frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Jürgen Baumert, in einem gemeinsam formulierten Aufruf.

Auch die Bildungsforscherin Isabell van Ackeren von der Universität Duisburg-Essen hält die Klagen über eine zu hohe Belastung der G8-Schülerinnen und -Schüler für übertrieben. Sie hat in mehreren Studien untersucht, wie sich der kürzere und der längere Weg zum Abitur auf die Schüler auswirken. Ihr Fazit: Die Länge der Schulzeit ist nicht entscheidend. Auch sei eine höhere Belastung von G8-Abiturienten aus Migrantenfamilien nicht feststellbar. Dort, wo Eltern die Wahlfreiheit zwischen acht- und neunjährigen Schulformen hätten, würden sich sogar überproportional viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in G8-Klassen finden. Dass die Wahrnehmung der Elternverbände von diesen Ergebnissen abweiche, erklärt van Ackeren in einem Interview mit der GEW-Zeitschrift »Erziehung und Wissenschaft« damit, dass der Umbau des Gymnasiums in einer Zeit erfolgt sei, in der zahlreiche andere Reformen umgesetzt worden seien - zum Beispiel die frühere Einschulung, der jahrgangsübergreifende Unterricht in der Grundschule oder der Umbau zu einem zweigliedrigen Schulsystem. Zudem werde von vielen Eltern das Abitur als notwendige Eintrittskarte nicht nur für die Universitäten, sondern auch ins Berufsbildungssystem verstanden.

Gruppierungen wie »G9-Jetzt-HH« in Hamburg oder die von den Freien Wählern (FW) getragene Initiative »Volksbegehren G8/9« in Bayern zeigen sich von solchen Verlautbarungen jedoch unbeeindruckt und starteten im Sommer letzten Jahres Volksbegehren gegen das Turbo-Abitur. Auch wenn die Initiativen in beiden Ländern letztlich an der nötigen Zahl von Unterschriften scheiterten, sind sie Beleg für einen Trend, denn G9-Initiativen gibt es mittlerweile in jedem Bundesland. Selbst im Osten mit seiner Tradition der achtjährigen Abiturzeit aus DDR-Zeiten gibt es Widerstand gegen das G8. So sprachen sich im Frühjahr 2014 die Landeselternvertretung von Brandenburg und der Philologenverband in Mecklenburg-Vorpommern für eine Rückkehr zum G9 aus.

Ein Streitpunkt beim G8 war von Anfang an das Festhalten der Kultusministerkonferenz (KMK) am verbindlichen Schlüssel von 265 Wochenstunden bis zum Abitur, ohne dass im Gegenzug der Unterricht und die Schulorganisation reformiert wurden. Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt entschieden daraufhin, an der Anfang der 90er Jahre erfolgten Umstellung ihrer Gymnasien auf das 13-Jahre-Abitur nach westdeutschem Vorbild festzuhalten. Sie sehen sich heute in dieser Entscheidung bestätigt: An den G8-Gymnasien wuchs das Wochenpensum von 30 auf 33 oder gar bis zu 36 Unterrichtsstunden, und da nur ein geringer Teil der Schulen Ganztagsschulen waren, Hausaufgaben also zuhause erledigt werden mussten, blieb für ein Hobby oder andere außerschulische Aktivitäten wenig Zeit.

Der Widerstand gegen das G8 werde von konservativen Verbänden getragen, die das bildungsbürgerliche Gymnasialprivileg verteidigen wollen, sagt die GEW-Schulexpertin Ilka Hoffmann. Die überstürzte Einführung des G8 in den meisten Bundesländern habe zweifelsohne viele Kinder überfordert, bestätigt sie aber auch die Bedenken der Eltern. Die GEW habe die KMK von Beginn an aufgefordert, Lehrpläne am G8 zu entschlacken und das Lerntempo den individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler anzupassen. Bei der jetzt erfolgenden »Reform der Reform« sei kein gemeinsames Ziel in der KMK zu erkennen. Jedes Bundesland habe seine eigene Linie und richte diese nach dem Grad des Widerstands gegen das G8 aus, kritisiert die Leiterin des Organisationsbereichs Schule beim GEW-Hauptvorstand.

Ein Beispiel ist Bayern. Die Niederlage der Freien Wähler beim Volksbegehren hat sich nachträglich in einen Sieg verwandelt. Offiziell hält die CSU zwar am G8 fest, doch die CSU-Landtagsfraktion beschloss Ende September 2014 die Einführung der »Mittelstufe plus«. Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) spricht von einem »bedarfsorientierten Modell mit einer Dehnung der Lernzeit um ein Jahr für jene Schüler, für die zusätzliche Lernzeit pädagogisch sinnvoll erscheint«. Im Klartext: Künftig können die Gymnasien zwischen G8 und G9 wählen. Die Gegner des Turbo-Abiturs im Freistaat jubeln. »Ohne unser Volksbegehren hätte es den Vorschlag von Spaenle nicht gegeben«, ist sich FW-Chef Hubert Aiwanger sicher.

Isabell van Ackeren hält eine solche Wahlfreiheit zwar »im Prinzip für keine schlechte Idee«, warnt aber vor einer unkoordinierten und zwischen den Ländern nicht abgesprochenen Einführung. Zum einen würde hierdurch der Schulwechsel von einem Bundesland in ein anderes erschwert, zum anderen entstünden zusätzliche Finanzierungsrisiken. So seien durch die Einführung des G8 Gelder frei geworden, die beispielsweise für den Ausbau der Ganztagsschulen genutzt wurden. Eine übereilte Rückkehr zum G8 würde diese Reform gefährden.

Für Ilka Hoffmann von der GEW ist dagegen die Wahlfreiheit ein fauler Kompromiss: Der bayerische Mittelweg zwischen G8 und G9 sei die »altbekannte schulpolitische Flickschusterei«, kritisiert die GEW-Schulexpertin.

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