Geiselmord als Chance für Japans Aufrüstung

Premier Abe will pazifistischen Artikel 9 aus der Verfassung streichen und regional Handlungsfreiheit gewinnen

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Tötung des japanischen Reporters Kenji Goto durch den Islamischen Staat versetzt Japan in Trauer und entfacht die verteidigungspolitische Debatte aufs Neue.

»Ich verspüre herzzerreißenden Schmerz«, verriet Shinzo Abe in untypisch emotionalen Worten. In traurigem Ton bedankte er sich bei den Regierungen anderer Länder, die sich mit ihm um die Freilassung der zwei japanischen Geiseln bemüht hatten. Aber Stunden nach der Nachricht über die Tötung des zweiten Gefangenen fand Japans Premierminister auch harte Worte: »Wir müssen uns verstärkt um die Sicherheit japanischer Bürger bemühen, auch jener im Ausland.«

Er wolle deshalb eine Debatte über ein rechtliches Rahmenwerk, um den japanischen Selbstverteidigungsstreitkräften Einsätze zur Rettung von im Ausland in Gefahr geratenen Japanern zu ermöglichen, sagte Ministerpräsident Abe am Montag vor einem Parlamentsausschuss. Dies sei derzeit nicht möglich. Eine in Japan schon lange schwelende verteidigungspolitische Debatte wurde damit neu entfacht.

Am Sonntag hatte der Islamische Staat ein Video veröffentlicht, das den eine gute Woche zuvor in Geiselhaft genommenen japanischen Kriegsreporter Kenji Goto zeigte, mit dem Messer eines vermummten Mannes nah an seinem Hals. Da Abe nicht zahlen wollte und andere Versuche scheiterten, ist im Video vom Sonntag auch der tote Körper von Kenji Goto zu sehen.

Es ist eine Niederlage für Premier Abe, die ihn ironischerweise auf anderer Ebene noch zum Gewinner machen könnte. Denn so tragisch der Todesfall für den japanischen Journalismus und die Angehörigen Kenji Gotos ist, so nützlich könnte er noch für die Pläne der Regierung werden. Seit Amtsantritt Ende 2012 macht sich der Premier dafür stark, die japanische Verfassung von einem pazifistischen Artikel zu befreien, auf dem die Siegermacht USA nach dem Zweiten Weltkrieg einst bestand.

In diesem Artikel 9 erkennt der japanische Staat an, dass er unter keinen Umständen Krieg führen darf. In den Augen Konservativer beschneidet der Artikel aber die japanische Souveränität. Als Abe bereits zwischen 2006 und 2007 ein Jahr lang als Premierminister regierte, leitete er schon einen ersten Schritt ein, um den Artikel 9 zu schwächen. Das Verteidigungsressort baute er zu einem eigenständigen Ministerium aus. Seit 2012 stiegen auch die Ausgaben für Militär zum ersten Mal seit langem wieder.

Das offizielle Argument für Japans Sorge um militärische Stärke ist nicht vor allem Nationalstolz. Ein seit zweieinhalb Jahren immer wieder aufflammender Territorialstreit mit China um eine Inselgruppe hat etwa zu indirekten Kriegsdrohungen von beiden Seiten geführt. Hinzu kommt Nordkorea, das in der Vergangenheit japanische Bürger entführte und in letzter Zeit wiederholt mit Militärübungen provozierte.

Außerdem geht es um wirtschaftliche Interessen. Zum einen machen japanische Konzerne einen Großteil ihrer Umsätze im Ausland und dabei nicht selten in instabilen Regionen. Andererseits verfügt Japans Militär, auch wenn es seit Ende des Zweiten Weltkriegs nur den Namen »Selbstverteidigungskräfte« tragen darf, über eine technologisch hochwertige Ausrüstung. Die japanischen Rüstungshersteller wollen ihre Produkte verstärkt exportieren. Aber auch hier ist die pazifistische Gesetzeslage im Land hinderlich.

Die Tötung von Kenji Goto gibt Abe und seinem Kabinett nun ein neues Argument. Schon mehrmals haben japanische Regierungen für ein stärkeres Militär plädiert, wenn Landsleute anderswo in Schwierigkeiten steckten. Das Problem für Abes rechtskonservative Liberaldemokratische Partei ist nur, dass ihre militärischen Vorstellungen unbeliebt sind. Die Mehrheit der Bevölkerung will den pazifistischen Artikel 9 in der Verfassung beibehalten. Laut Abe nahe stehenden Personen ist die verteidigungspolitische Erneuerung das wichtigste politische Projekt. Ausgerechnet mit dem Verlust eines Kriegsreporters könnten seine Bemühung neuen Schwung erhalten.

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