Sternschnuppen an!

Andreas Dresen über Abschiede, den Preis der Freiheit und das Beste, das noch kommt

  • Lesedauer: 7 Min.

Sie kennen die Welt der internationalen Festivals aus der Nähe - wie charakterisieren Sie die Berlinale?

Wenn man, zum Beispiel, Cannes als den mondänen Golfclub der Festivals bezeichnen würde, dann wäre die Berlinale wohl der große Sportplatz für alle. Die Berlinale ist so etwas wie ein Volksfest des Kinos. Es ist damit ein Festival jener, für die Filme ursächlich produziert werden. In Cannes dominieren Smoking und Abendkleid, in Berlin das T-Shirt, der Parka und die Jeans.

Berlin versteht sich als politisches Filmfestival.

Das ist es auch - der Jurystuhl für den iranischen Regisseur Jafar Panahi wird nach wie vor symbolisch freigehalten, und das darf als Gleichnis für eine Geisteshaltung verstanden werden. Die politischen Blickwinkel der Berlinale sind allein schon durch die enorme Vielfalt der Filme garantiert. Daraus lässt sich jedoch nicht schlussfolgern, Cannes etwa verhielte sich weniger politisch.

Sie zeigen im Wettbewerb »Als wir träumten« nach dem preisgekrönten Roman von Clemens Meyer. Der Osten Deutschlands, nach dem Ende der DDR, als Brachfeld und doch auch als Landschaft des Blühens - nämlich der ungebärdigen, ungeschlachten, ungesetzlichen Visionen von einer (endlich!) freien Existenz. Aber aus den Entwürfen vom Leben wird Blut tropfen ...

Jungs werden zu Männern, es geht also um einen Abschied. Das Erwachsenwerden ist einerseits die Erfüllung eines tief gefühlten Wunsches, man meint endlich die Ohnmacht des Kindes hinter sich zu haben, die Kräfte wachsen - aber andererseits fordert das Leben jetzt viel unerbittlicher, dass man ihm gerecht werden möge. Das ist die neue Ohnmacht, sie nennt sich Lernprozess, Anpassung, Einfügung, Konsolidierung hin zum bürgerlichen Leben. Genau dazwischen leben die Jungs im Film.

Vor allem heißt das neue Gesetz: Markt.

Wenn sich das Chaos lichtet, ist plötzlich vor jeden Wert ein Preisschild gesetzt. Zahl den verlangten Preis - oder du wirst Wunden pflegen müssen.

Als wir träumten ... im Titel die Vergangenheitsform. Vorbei. Mäßigung ist das Gesetz des Lebens.

Wenn sich eine Gesellschaft konsolidiert, dann ist das immer zweierlei: eine tröstliche Beruhigung - aber leider auch ein Verlust an ungezwungenem Denken. Das ist der Widerspruch, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen: Grenzen in Frage zu stellen in einer Welt, die ohne Setzung von Grenzen nicht lebbar wäre.

Ein Film über Eruptionen nach dem Ende der DDR. Warum erst jetzt?

Das Jungsein in seinen romantischen wie tragischen Dimensionen zu begreifen - ich glaube, diese Fähigkeit wächst mit zunehmendem Alter. Man muss reif werden, um einen bestimmten Schmerz, eine bestimmte Wehmut, ein bestimmtes Ziehen in der Herzgegend erzählen zu können.

Eine Erzählung vom Geschmack der Freiheit. Ist Freiheit nur etwas für Starke?

In gewisser Weise ja. Freiheit braucht Gestaltungswillen, die Frage ist, wofür man diesen Willen einsetzt. Wo man sich innerhalb eines Systems Freiheitsräume erstreitet, dort beginnt immer auch Zivilcourage. So haben doch die Montagsdemos in der späten DDR begonnen: nicht mit Tausenden, nein - sehr Einzelne gingen auf die Straße, ganz allein mit ihrer Angst, ohne Rücksicht auf die Folgen. Wahrer Mut entsteht nicht in Massenorganisationen.

Freiheitswille kann auch einfach nur Egoismus sein.

Freiheitswille funktioniert nicht ohne Egoismus. Die Jungs im Film nehmen sich, was sie brauchen, ohne in die Abgründe zu schauen. Egoismus ist ein natürliches Treibmittel: Ich will was haben vom Leben! Aber klar, man sollte sich nicht nur von etwas befreien, man sollte sich immer auch für etwas frei machen: für Solidarität, für Gemeinsinn.

Wundern Sie sich angesichts mancher Zustände dieser Welt, dass Leute nicht laut ihre Fragen hinausschreien?

Es ist wahrscheinlich die schwierigste Balancefrage einer Gesellschaft: Wann ist Ruhe die erste Bürgerpflicht, und wann ist sie wirklich das Letzte?

Was ist derzeit?

Die Radikalität des Fragens scheint vielfach verloren gegangen zu sein. Das ist ungesund für eine Gesellschaft. Natürlich muss eine Ordnung auf Regeln bestehen, aber gleichzeitig muss man diese Regeln immer wieder befragen. Wo Grenzen nicht ausgereizt, ja vielleicht sogar gesprengt werden, ändert sich nichts. Dieser radikale Drang ist das Privileg der Jungen, die alten Säcke bringen's nicht - und Alter fängt leider eher an, als man denkt. Die energischen Fragen der nächsten Generationen werden also dringend gebraucht. Also, um Gerhard Gundermann zu variieren: Facebook aus, Sternschnuppen an!

Sie sagten: radikal ...

Bei Radikalität denken wir sofort an Umsturz und zucken zurück. Aber jenes unbequeme radikale Denken, das Bestehendes, Festgefahrenes in die Krise bringt, das bedeutet nicht den Sturz der Demokratie, das ist ihr Fundament.

1989 schrieben Sie: »Gefangen von Zivilisation und Geborgenheit/ gealtertes Neubaukind aus Zeiten einfacher Antworten/ bequem verfetteter Prometheus// Möchte mir den Earl Grey ins Gesicht schütten/ und bin doch zu feige zu mir selbst/ Bin krank vor heiler kranker Welt.« Das ist das expressionistisch schreiende Psychogramm eines Lebens in ödester DDR.

Der blanke Gefühlsstau.

Wie hätte der sich auflösen lassen?

Ich weiß es nicht. Ich habe Glück gehabt: Ich musste nicht ausbrechen - die Welt ist in meine Welt eingebrochen. Das war wie hoher Besuch - wann erlebt man schon sich selber an der Schnittstelle zweier Welten? Aber dann, wie bei so vielen, eine tiefe Unsicherheit. Mehrere Jahre brauchte ich, um in der neuen Zeit heimisch zu werden. Den anarchischen Ausbruch ins Reich der Freiheit habe ich jedenfalls damals nicht ausgelebt. Vielleicht kam von daher meine Faszination für die Tonart von Clemens Meyer, sie ist so weit weg von mir.

Im Film spielt der Boxkampf zwischen »Rocky« Rocchigiani und Henry Maske eine Rolle, der WM-Clinch 1995. »Rockys« Aufwärtshaken kommen nicht durch. Es ist jetzt fast wie die blöd vereinfachende Frage, ob jemand eher die Beatles oder die Stones mochte: Waren Sie damals für Rocchigiani oder für Maske?

Ich war damals für Maske, natürlich weil er aus dem Osten kam. Nachdem ich aber bei den Dreharbeiten mehrfach die Aufzeichnung des Kampfes gesehen habe, verstehe ich die Jungs, dass sie für »Rocky« sind. Maske, der Gentleman mit Seidenbademantel, »Rocky« dagegen: mit Handtuch, um den Kopf geknotet, der Straßen-Kneipen-Boxer. Irgendwie Schmutz, Gosse, ein Außenseiter - einer, der hat begriffen: Fürs Leben hat man nur das wirklich gelernt, was man gegen das Leben gelernt hat.

1999 lief Ihr Film »Nachtgestalten« auf der Berlinale. Ist ein Vergleich angebracht?

Ja und nein. Beide Filme besitzen eine ähnlich ruppige Grundenergie. Aber »Als wir träumten« ist im Milieu härter, der Film ist in einem ganz anderen Maße laut und grell und schnell. Es gibt darin Dinge, die tun ganz anders weh, als es »Nachtgestalten« vermochte.

»Nachtgestalten« gewann damals den Silbernen Bären - Michael Gwisdek wurde Bester Schauspieler. Ein gutes Omen?

Hören Sie auf! Vor der Preisverleihung war alles ein Albtraum! Jeder Verleiher lobte den Film - aber keiner wollte ihn haben. Die Berlinale war wirklich die allerletzte Chance, einen Marktzipfel zu erwischen. Wäre das schief gegangen, ich weiß wirklich nicht, ob ich überhaupt noch einen Film hätte drehen dürfen. Es war zudem die Zeit, da wuchsen den Kritikern schärfste Zähne, wenn man nur flüsterte: »ein deutscher Film«. Mein Produzent Peter Rommel steckte übrigens gerade in einer Trennung - ich auch. So standen wir auf dem roten Teppich - und lächelten. Seitdem weiß ich: Vom offiziellen Lächeln eines Menschen darf man nie auf dessen wahren Gemütszustand schließen.

Im Film »Als wir träumten« kommt der Satz vor: »Das Beste kommt noch.« Was ist das, dieses Beste?

Im Leben? Dass wir es nicht wirklich wissen. Aber dass wir es erhoffen.

Auch wenn wir bislang bitterste Erfahrungen machten?

Unsere Sehnsüchte lassen sich nicht bändigen. Sie lassen sich durch Scheitern nicht zähmen.

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