Damit alle verstehen

Hallenser Textoptimierer machen keine schönen, sondern die nötigen Worte für Inklusion. Von Ulrike Gramann

  • Ulrike Gramann
  • Lesedauer: 8 Min.

Das Wort »Textoptimierung«, in eine Suchmaschine eingegeben, liefert Treffer voll schöner Versprechen: Da spricht schon die Überschrift vom »Kundennutzen«, die Zielgruppe wird angetextet, dass es nur so blitzt, Texte fließen geschmeidig ins Medium, die schönen Worte rollen wie geschmiert. »Textoptimierung« ist ein Begriff der Werbeindustrie, die jedem, der etwas zu verkaufen hat, große Vorteile verspricht.

Sie können aufatmen: Um die Werbewelt mit ihren Vorteilsversprechen geht es in dieser Geschichte nicht.

In dieser Geschichte geht es um Nachteile. Nachteile, die ausgerechnet durch gute und schöne Worte entstehen, variantenreiche Formulierungen, all die verschiedenen Arten, etwas zu sagen. Die nämlich sind nicht immer von Vorteil für Menschen, die einen Text schnell lesen und verstehen müssen. Auszubildende zum Beispiel, die schriftlich geprüft werden, bringen ihr Wissen nur an, wenn sie Fragen und Aufgaben rasch und unter Stress verstehen. Manche Azubis verfügen zwar über gutes Fachwissen und die nötigen Fertigkeiten, doch fehlt es ihnen an sprachlicher Kompetenz - auch aus Gründen, für die sie nichts können.

In dieser Geschichte geht es darum, wie Textoptimierung Nachteile ausgleicht. Daran arbeiten die Expertinnen vom Hallenser Institut für Textoptimierung. »IFTO« steht auf dem Klingelbrett ganz oben, das Büro versteckt sich im Keller, wo einst Wein ausgeschenkt wurde.

Die Linguistin Susanne Wagner und der Informatiker Ulrich Peinhardt, die das Institut gemeinsam gründeten, sitzen im hintersten Räumchen des Ex-Weinkellers vor dem Rechner. Wagner sagt also: »Okay, wir machen eine Prüfung für eine Hörgeräteakustikerin, die ohne ihre Hörprothese kaum etwas hört. Wir müssen uns etwas einfallen lassen.« Warum? Gehörlose und hörgeschädigte Kinder sind beim Erlernen der Sprache im Nachteil, denn das Gehör spielt eine wichtige Rolle dabei. In ihrem späteren Beruf können diese Menschen trotzdem kompetent und geschickt sein und wie alle anderen durch die tägliche Arbeit dazulernen. Aber vor dem Beruf steht die Prüfung.

Die meisten von uns mögen weder Schachtelsätze noch Genitivketten. Aber dass Sätze komplex sind, Wörter doppeldeutig, dass es Varianten gibt, ist für gut hörende Menschen selten eine Hürde. Gibt es einen Unterschied zwischen »erklären« und »erläutern«? Viele von uns halten sich nicht damit auf und lösen die Aufgabe trotzdem. Doch Menschen, die wenig hören oder gehörlos sind, stellen Varianten, komplizierte Sätze und Mehrdeutigkeiten vor eine hohe Barriere. Wenn sie ihre guten Fachkenntnisse präsentieren sollen, bringt diese Barriere sie in Nachteil. Die geöffnete Hand wandert zur Stirn, Daumen und Zeigefinger formen einen leeren Kreis, »keine Ahnung« heißt das, in Gebärdensprache. Dass die einer anderen Grammatik folgt als die Sprache der Hörenden, auch das wirkt sich auf Lesen und Verstehen aus.

Persönliches Pech? Das war es lange. Heute muss es von Gesetzes wegen dafür einen »Nachteilsausgleich« geben. Das ist eine Vokabel aus dem Sozialgesetzbuch. Wagner: »Der Staat muss behinderte Menschen in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unterstützen. Darauf gibt es einen Rechtsanspruch.« Den umzusetzen, nennt man oft »Inklusion«. Behörden sind nicht gegen Inklusion. Vor allem, wenn sie wenig kostet. Die billige Lösung heißt daher oft »Zeitausgleich«. Verstehe ich aber eine Frage nicht, hilft es nichts, sie länger anzustarren. Gehörlose könnten durch eine Gebärdendolmetscherin unterstützt werden. Weil die Gebärdensprache wiederum für die meisten Hörenden eine Fremdsprache ist, befürchten hörende Prüfer oft, dass beim Gebärden helfend eingegriffen wird. Eine andere Lösung wäre top.

TOP - das ist die Abkürzung für Textoptimierung, und TOP ist ein Weg, den Rechtsanspruch auf Nachteilsausgleich zu verwirklichen. Nämlich so: In einer Prüfungsfrage geht es zum Beispiel um das Verladen eines Bohrwerks, für das ein Azubi das richtige Hebe- oder Förderzeug auswählen soll. Aus »Wählen Sie ein Gerät aus, mit dem Sie unter Beachtung eines schonenden Materialumgangs und unter Anwendung der Sicherheitsvorschriften eine ordnungsgemäße Verladung durchführen können!«, wird mit TOP: »Wählen Sie ein geeignetes Gerät aus. Wichtig: mit Material vorsichtig sein, Sicherheitsvorschriften beachten.« Das ist »einfache Sprache«. Der Inhalt bleibt gleich, die Sprache wird vereinfacht. Leichter wird die Aufgabe nicht, nur besser verständlich.

Aber machen komplexe Strukturen unsere Sprache nicht erst reich und schön? »Prüfungen sind im Leben eines Menschen extrem wichtig. Jemand soll zeigen, was er in einem Fachgebiet gelernt hat. Deshalb sollte der ästhetische Anspruch zurücktreten«, findet Susanne Wagner. Inklusion heißt für sie, »dass man einen Text so formuliert, dass er bei der Zielgruppe ohne Probleme ankommt«. Die Zielgruppe ist groß. Denn es geht darum, dass ein Text von allen verstanden wird, »ohne dass Menschen mit guten Sprachkenntnissen sich veralbert fühlen«, wie Susanne Wagner sagt. Neben Hörgeschädigten gehören dazu auch Menschen mit einer Lernbehinderung. Wenn sie die gleichen Berufe erlernen, müssen sie die gleichen Inhalte beherrschen, die gleichen Aufgaben lösen. Ulrich Peinhardt meint: »Manche Lehrer beurteilen die Qualität ihrer Aufgabenstellungen nach sprachlicher Schönheit. Sie wollen keine optimierte, sondern eine schöne Sprache.« Aber, so Wagner, in Mathe werde eben nicht Deutsch geprüft. Moment, gilt nicht ein muttersprachliches Prinzip im Unterricht? Wagner nickt. »Aber in der Prüfung soll nichts vermittelt werden.«

Die Berufe, für die IFTO schon Texte optimiert hat, findet man auf den Rücken der vielen Ordner, die nach Berufsbezeichnungen und Prüfungsfächern benannt sind. Unter dem Oberbegriff »Metall« finden sich Berufe wie Industriemechaniker, Teilezurichter, Verfahrensmechaniker, Technische Zeichner oder Spezialisierungen wie Maschinenbau und Betriebstechnik. Versehen mit dem Datum vergangener Prüfungen erzählen die Ordner »die Geschichte dieses Ladens«.

Wagner hat über Sprachverarbeitung im Gehirn promoviert, Grundlagenforschung war das, und danach stand ihr der Sinn »nach etwas Konkreterem«. Sie fand es 2002 in einem »An-Institut« der Martin-Luther-Universität Halle, dessen Name anscheinend nie textoptimiert wurde: Die Forschungsstelle zur Rehabilitation von Menschen mit kommunikativer Behinderung (FST) betrieb dort in Partnerschaft mit dem Rheinisch-Westfälischen Berufskolleg, dem RWB Essen, das Projekt »TOP«. Am RWB Essen hatten die ersten textoptimierten Prüfungen schon 1987 stattgefunden, von einer Heidelberger Forschungsstelle begleitet, die 1998 an die Uni Halle umzog. Ganz sicher ist die Finanzierung solcher Projekte nie, und eines Tages wird sie, wie Wagner es nennt: »eingedampft«. TOP passierte das 2010, als sagenhafte 50 000 Aufgaben aus 60 Berufen optimiert waren, was fast 2400 Prüflingen genutzt hatte. Eigentlich war das doch der Moment, richtig loszudampfen! Wagner fühlte sich dafür neu genug, zugleich nicht mehr wie eine Anfängerin. Jede Aufgabe war die ideale Arbeitsvoraussetzung für die nächste gewesen, das Wissen mit jeder Optimierung reicher geworden.

Gemeinsam mit Peinhardt, der als Programmierer schon am FST-Projekt mitgearbeitet hatte, gründete sie Ende 2011 die Firma IFTO. Menschen, die solche Entscheidungen wie Siege präsentieren, sind sie nicht. Peinhardt sagt schlicht: »Es war eigentlich ganz einfach.« Die Partnerschaft mit dem RWB Essen bestand, die Nachfrage war da, »man musste nur klarmachen, dass es bezahlt wird«.

Nur? Das ist entscheidend. Und es geht so: Beantragt ein Azubi eine Prüfung in einfacher Sprache, müssen die Industrie- und Handels- bzw. Handwerkskammern zustimmen. Finanziert werden Maßnahmen wie die Textoptimierung durch die Integrationsämter oder die Arbeitsagentur. Die Gelder kommen letztlich von Unternehmen, die anteilmäßig nicht genug Schwerbehinderte einstellen und deshalb für den Nachteilsausgleich zahlen müssen. Ganz so einfach ist es freilich nicht, denn Azubis und Lehrerinnen müssen erst einmal erfahren, dass es Textoptimierung überhaupt gibt. Sonst bleibt es beim Nachteil.

Reich wird man mit einem Unternehmen wie IFTO nicht, meint Peinhardt. Die Räume sind klein, renoviert haben Gründerin und Gründer selber. »Und dann musste es funktionieren, von jetzt auf gleich.« Wagner: »War schon eher knapp kalkuliert.« Sehr knapp: Die Geschäftsführung besorgen Wagner und Peinhardt ehrenamtlich. Sein Brot verdient Peinhardt in einer weiteren Firma für Hardware und Softwareentwicklung, die er betreibt. »Ich mache alles«, sagt er, und dazu gehört noch ein Ehrenamt, als Stadtrat. Wagner hat eine 30-Stunden-Stelle in Leipzig, wo sie sich mit auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen bei Jugendlichen auseinandersetzt. Wieviel Zeit sie für IFTO arbeitet? »Es kommt darauf an.« Die Frauen im Büro fangen vieles ab, sagt sie und räumt ein, dass sie in der Prüfungszeit manchmal Urlaub nimmt, für die Arbeit bei IFTO. Kommt die zweifache Mutter mit der S-Bahn nach Halle, hat sie ihr Fahrrad dabei. Und wer es schafft, mit der Straßenbahn so flott am Bahnhof zu sein wie sie, kann das Gespräch mit ihr für eine S-Bahn-Fahrt verlängern.

Drei Angestellte und eine Praktikantin arbeiten im IFTO-Team. Die Hauptarbeit ist das Optimieren, dazu kommen die Endredaktion und die unvermeidliche Fehlersuche. Potenzielle Kunden finden IFTO durch Mundpropaganda, via Internet und dank eines Buchs zum Nachteilsausgleich, das beim Bundesinstitut für berufliche Bildung erschien. Das Institut, das Prüfungen optimiert, lernen sie aber vor allem durch Schulungen kennen, für die Teilzeitmitarbeiterin Susanne Scharff durchs Land reist. Die Schulungen bringen viel: für Lehrkräfte, die lernen, ihre Aufgabenstellungen auch im Schulalltag zu optimieren, und für Azubis und Schüler, deren Lehrer wollen, dass sie die Prüfungen bestehen. Tun sie es nicht, darf nur ein Mangel an Fachwissen der Grund sein. »Jede gelungene Klassenarbeit ist ein Schritt ins Leben.« Aber kann es nicht auch zum Nachteil werden, wenn Prüfungen dank einfacher Sprache bestanden wurden? Scharff: »Nein, man kann Dinge im Leben auch nach einer Prüfung noch lernen.« Einfache Sprache sei nicht leichte Sprache, in der die Inhalte auch mal verändert würden.

Wagner: »Sprache ist in einer Prüfung das Mittel zum Zweck.« Im Behördendeutsch wäre einfache Sprache für alle gut. Eine Ampel zum Beispiel heiße für den Mitarbeiter einer Behörde »Lichtsignalanlage«, der wisse gar nicht, dass man das für andere übersetzen muss. Doch das Bewusstsein für solche Schwierigkeiten wächst, und neben Prüfungsaufgaben optimiert IFTO auch Fragebögen, Benutzerordnungen und ähnliche Texte. Jeden Text, den sie optimiert, liest Susanne Wagner zunächst ganz, ehe sie Satz für Satz neu formuliert. Sätze gebe es, »bei denen ich selbst nicht durchkomme. Manche Absätze sind chaotisch, da räume ich erst einmal auf. Alle guten Redakteure und Lektorate machen das!«

Diese Geschichte ist eben doch eine Geschichte über Vorteile.

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