Der andere Blick

Gedreht und verboten 1966, nun digital restauriert: Der DEFA-Film »Jahrgang 45« von Jürgen Böttcher bei der Berlinale

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Manche Träume lassen sich nicht erzählen, sind ganz aus Atmosphäre gemacht. So ein Traum ist »Jahrgang 45« von Jürgen Böttcher. Gedreht im Frühjahr und Sommer 1966, so als hätte es das 11. ZK-Plenum (»Kahlschlagplenum«), in dessen Folge zwölf von vierzehn Spielfilmen der DEFA-Jahresproduktion 1965 verboten wurden, gar nicht gegeben. »Jahrgang 45« handelt von der Generation der Zwanzigjährigen, die den Krieg nicht mehr erlebt haben, die in einer DDR hinter der Mauer jung sind - und sich auf ein Leben in diesem Staat einrichten. Wie sind sie? Das wollte Jürgen Böttcher wissen, selber Jahrgang 1931.

Und dann starrt Rolf Römer als Al gleich zu Beginn so provokant gelangweilt in die Kamera, noch dazu auf dem Sofa liegend, mit den nackten Füßen ein Bild an der Wand traktierend. Was war das? Godards »Verachtung« plus Fellinis »Müßiggänger« mitten im Berliner Osten? Und so geht der Film weiter, assoziativ seinem proletarischen Dandy, dem Automechaniker Al folgend. Seine Frau Li ist Kinderkrankenschwester und im Vergleich zu Al, obwohl auch erst Anfang zwanzig, bereits erwachsen. Darum hat Al auch die Scheidung eingereicht, er fühlt sich eingesperrt in seiner Ehe. »Jahrgang 45« begleitet nun Al vier Tage lang (da hat er sich Urlaub genommen) durch das sommerliche Berlin. Die Handlung reduziert sich aufs Alltägliche, wie Al durch die Straßen geht, wie er sein Motorrad immer im Kreis fährt, wie er in einem Studentenclub zu E-Gitarren-Musik Li hinterher schaut, die mit anderen Männern tanzt. Was für existenzialistische Namen Al und Li, sozialistische Jedermanns in »Nietenhosen« und mit Händen in den Taschen das Leben um sich herum aufmerksam beobachtend. So wird »Jahrgang 45« zum mit feinem Pinsel gemalten Sittengemälde der DDR Mitte der 60er Jahre.

Was ist das für ein Regisseur, der sehenden Auges in das Messer der Zensur läuft? Die Tür öffnet sich und Jürgen Böttcher steht da, immer noch wie ein Junge zwischen genialischer Auftrittspose und totaler Verweigerung. In der großen Altbauwohnung: dicht an dicht die Bilder an die Wände gelehnt. Dies ist Jürgen Böttchers Wohnung und Atelier zugleich. Es riecht nach frischer Ölfarbe und Terpentin. Denn Jürgen Böttcher ist auch Maler und als solcher heißt er Strawalde. Das erklärt die Intimität seines Blicks, die zärtliche Aufmerksamkeit, mit der er kleinste Details behandelt - die sich dann in der Summe zu einem gesellschaftlichen Panorama weiten, von artistischer Präzision.

So hat Böttcher auch den einzigen Spielfilm, den er je machte, »Jahrgang 45«, gedreht und auch die DEFA-Dokumentarfilme, mit denen er bekannt wurde: »Ofenbauer« (1962), »Wäscherinnen« (1973) oder auch »Rangierer« (1985) - das sind Filmsujets aus der Welt der Arbeit, die heute so nicht mehr vorkommen. Eine kostbare Filmgeschichte der DDR-Industrie und der Menschen in ihr. Es sind schweigsame Filme, denn Böttcher misstraut dem Kommentar, die Bilder sollen für sich sprechen. Seine Aufgabe als Regisseur sieht er darin, sie in einen Rhythmus zu bringen.

Böttcher hat Tee gemacht. In der Behandlung von Alltagsgegenständen besitzt er die Aufmerksamkeit eines Buddhisten. Es gibt zwei Tassen zur Auswahl, große und kleine. Die Kleinen sind etwas Besonderes. Sein Galerist, der nebenbei auch versunkene Schiffe hebt, hat sie vom Meeresgrund heraufgeholt: eine ganze Schiffsladung aus dem 16. Jahrhundert, mit offizieller Genehmigung, fügt er hinzu. Natürlich trinken wir aus denen, dazu sind sie schließlich da.

Das Normale, einfache und durchaus Gewöhnliche zu zeigen wie es ist - und durch eine winzige Drehung der Perspektive, der Beleuchtung, der Brennweite in längst bekannten Dingen etwas Neues und Wertvolles zu entdecken, das zeichnet auch »Jahrgang 45« aus. Hinterhofszenerien, aber nicht gestellt, sondern im Stile eines Dokumentarfilms gedreht - mit Roland Gräf als Kameramann. Das wichtigste in einem Film, sagt Böttcher, sind die Pausen, also die Schnitte, die bestimmen den Atem eines Films, sein Tempo. Wie die Kamera hier den Gesten und Blicken Rolf Römers folgt, das wird zur Sprache dieses ansonsten schweigsamen Films. Böttcher mischte darin Henry Purcell mit Wolf Biermann, der Eva-Maria Hagen auf der Gitarre begleitet.

Man kann sich vorstellen, wie die Reaktion auf den erstmals im Studio gezeigten Rohschnitt war: ein Wutschrei der Empörung. Genau das wollte man nun nie mehr im Kino sehen, gelangweilt flanierende »Nietenhosenträger«, die schönen Frauen hinterher schauen, unverwüstliche Poeten des Alltags im Berliner Sommer 1966. Krank sei das, schreit ihn Horst Sindermann vom Politbüro in einer Versammlung an - aber Böttcher ist Choleriker und er schreit zurück, er verbitte sich derartige Verleumdungen! Heute sagt er, die alten Funktionäre in ihrer Scheinwelt wären direkt aufgelebt, wenn man ihnen so entgegensprang. Aber in der Versammlung nimmt ihn erst einmal ein eilfertiger Funktionär am Kragen, um ihn zum Ausgang zu zerren. Stopp!, ruft Sindermann da, ich bin keine Mimose! Das rechnet Böttcher dem DDR-Staat bis heute hoch an, Nichtachtung war es nicht, was den DDR-Künstlern entgegenschlug, jedoch allzu oft Unverständnis. Seine Erfahrungen im Umgang mit Kunst und Künstlern heute sind ganz andere, von eben jener gleichgültigen Missachtung geprägt, die das Schlimmste für einen Künstler ist.

So wird auch »Jahrgang 45« im Rohschnitt verboten, nicht einmal die Schauspieler dürfen ihn sehen. Die Schauspieler in den Nebenrollen, das sind Böttchers Freunde aus seinem Haus und von der Straße, darunter auch A.R. Penck, den er als Mallehrer bereits als Vierzehnjährigen in einem Volkshochschulkurs entdeckt hatte (darüber drehte er 1961 den - ebenfalls verbotenen - Dokumentarfilm »Drei von vielen«, der vor allem dem Kulturoberaufseher Alfred Kurella missfallen hatte: »Wie lümmeln die da herum, das ist nicht unsere Jugend!«).

Heute ist Penck weltberühmt und sein Entdecker Strawalde verkauft mittlerweile kaum noch ein Bild. Aber die Welt des Kunsthandels ist zu kompliziert und ungerecht, um jetzt auch noch darüber zu reden. Immerhin stellt Mark Lammert, der Bühnenbildner des verstorbenen Regisseurs Dimiter Gotscheff, mit ihm zusammen ab 27. Februar in der Berliner Galerie Born (Potsdamer Straße 58) aus.

Das Telefon klingelt, Monika Hildebrandt, die Li des Films ist dran, sie kommt zur Berlinale-Vorstellung der digital restaurierten Fassung. Rolf Römer, hier in der Rolle seines Lebens, aber ist bereits vor fünfzehn Jahren gestorben. »Es tut so weh«, sagt Böttcher, wenn er an die Schauspieler denke. Römer ist dann trotzdem als Filmschauspieler erfolgreich geworden, die wunderbar natürliche Monika Hildebrandt nicht.

Rolf Römer war großartig in »Jahrgang 45«, das weiß Böttcher. Es ist sein Film. Trotzdem war er damals erstaunt, als sein ehemaliger Kommilitone von der Filmhochschule vor der Tür stand: Er habe gehört, was er da für einen Film drehen wolle. Das sei genau seine Rolle, so wie dieser Al sei er nämlich selbst. Böttcher aber hatte gar nicht an Römer für die Rolle gedacht, sie waren auch nicht gerade die engsten Freunde. Doch dem professionellen Blick des Regisseurs eröffnete es sich hier auf einmal: Römer hatte recht, er brauchte nicht länger zu suchen, er hatte seine Hauptdarsteller.

Man hat Böttchers »Jahrgang 45« auch so charakterisiert: Mit diesem Film hat sich die DEFA am weitesten von jenem UFA-Stil entfernt, der in den 60er Jahren in Babelsberg noch augenfällig war. Aber so weit ins Surreale wollte - und durfte - die DEFA eben nicht gehen. Böttchers Filmstil, das sei wie der »Bitterfelder Weg vom Kudamm aus gesehen« oder auch eine »Heroisierung des Abseitigen«, so warf man ihm vor. Das war das Todesurteil für »Jahrgang 45«. Erst 1990 konnte der Rohschnitt fertiggestellt werden.

Böttcher bekam als Folge seines ihm aus der Hand gerissenen und als »dekadent« weggeschlossenen Films nicht nur im Spielfilmstudio Hausverbot, sondern auch an der Filmhochschule. Erst als Lothar Bisky dort Rektor wurde, änderte sich das.

So viele ungenutzte Möglichkeiten, so viel enttäuschter Enthusiasmus! So blieb dem großen Regietalent die Möglichkeit versagt, noch einmal einen Spielfilm zu drehen. Mit »Jahrgang 45«, so Böttcher, habe er eigentlich erst einmal nur lernen wollen für das, was danach kommen sollte. Es kam für ihn anders: kein Spielfilm mehr, jedoch wichtige Dokumentarfilme, die zum Bildgedächtnis der Arbeitswelt der DDR gehören. Nicht zu vergessen ein immer noch - und wieder neu - zu entdeckender Maler Strawalde.

Vor allem: Der vielleicht gerade wegen seines collagehaften Reduktionismus so poetisch eindringliche »Jahrgang 45« existiert, man kann ihn heute sehen - und man darf staunen.

7. Februar, 11 Uhr, CinemaxX 8, Potsdamer Platz

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