Ciao Flüchtlingsfeinde

Am Oranienburger Bahnhof sind die Gegner des Lehnitzer Asylheims in der Unterzahl

In der Nachbarschaft der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen hetzen Neonazis in Oranienburg gegen ein Asylheim. Die Demokraten heißen Flüchtlinge willkommen.

Aus dem Lautsprecher dringt eine rockige Version von »Bella Ciao«. Die Landtagsabgeordnete Gerrit Große (LINKE), von Beruf Musiklehrerin, mag die traditionelle Version des italienischen Partisanenliedes lieber. Sie würde auch gern etwas anderes tun, als mittwochs am Bahnhof Oranienburg zu stehen. »Langsam haben wir die Nase voll, uns von denen den Abend verderben zu lassen«, sagt Große.

Alle zwei Wochen gibt es in der Stadt einen asylfeindlichen Aufmarsch, der an die Dresdner Pegida-Spaziergänge erinnert. Inzwischen ist es der dritte Aufmarsch, der vierte ist geplant. Beherzte Bürger wehren sich unter dem Motto: »Oranienburg: bunt, weltoffen, tolerant!« SPD, LINKE, Grüne und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zeigen Flagge. Schüler halten Schilder mit der Aufschrift »Willkommen« hoch. Etwa 150 Leute sind um 18.15 Uhr eingetroffen. Die Gegenseite sammelt sich nur ein paar Schritte entfernt. Zu diesem Zeitpunkt sind es knapp 90 Leute. Es werden noch deutlich mehr. Aber die Willkommensgruppe bleibt in der Überzahl.

Im Ortsteil Lehnitz wird seit Kurzem eine alte Kaserne als Asylheim genutzt. 193 Flüchtlinge sind dort bislang eingezogen, weitere 30 leben in Wohnungen und im Luisenhof. Pendlern, die mit der Berliner S-Bahn von der Arbeit kommen, wird am Bahnhof ein Faltblatt in die Hand gedrückt. Es enthält Fragen und Antworten rund um das Thema Asyl. So ist nachzulesen, dass 2012 rund 1,08 Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert sind, darunter sechs Prozent Asylbewerber. Gleichzeitig seien 712 000 Menschen ausgewandert. Im Durchschnitt zahle jeder Ausländer pro Jahr 3300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben, als er an staatlichen Leistungen erhalte. Im Umfeld von Asylheimen gebe es keine erhöhte Kriminalität.

Einer der Asylkritiker vor dem Bahnhof betont per Schild: »Ich bin kein Nazi.« Doch die Gegendemonstranten lassen sich nichts vormachen, als sie um 18.45 Uhr einige Minuten vor den anderen aufbrechen. »Nazis raus«, ruft jemand. Und es heißt: »Lasst uns dafür sorgen, dass dieser braune Spuk aufhört.« Immerhin wird berichtet, NPD-Landesvorständlerin Aileen Rokohl habe hier schon das Wort ergriffen und auch andere Neonazis seien gesichtet worden. Die Hetzrede am Mittwochabend spricht für sich. Sie gipfelt in der Behauptung von einer »nie dagewesenen Asylflut«. Das ist durch Tatsachen widerlegt. Denn in den 1990er Jahren kamen mehr Flüchtlinge. Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke (SPD), der die Vorteile der Zuwanderung mit dem Beispiel einer syrischen Ärztin illustriert habe, wird höhnisch geraten, sich doch von dieser Frau bei seiner nächsten Darmkrebsvorsorge untersuchen zu lassen.

Die Polizei meldet, um 19.30 Uhr einen 22-jährigen Passanten in Gewahrsam genommen zu haben. Zeugen hatten ihn beobachtet, wie er den Hitlergruß zeigte. Am Bahnhof Lehnitz verlässt ungefähr zu dieser Zeit ein Schwarzer die S-Bahn. Ein Straßenmusiker steigt zu. Auf seinem Akkordeon spielt er »Bella Ciao« auf die alte, gefühlvolle Weise.

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