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Sie leben zusammen und erkennen sich nicht

Marie NDiaye: In ihrem Roman »Ladivine« geht es wieder um Frauenschicksale

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.

Sind sie stark oder eher gedemütigt? Wie in ihrem vor fünf Jahren mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman »Trois femmes puissantes« erzählt Marie NDiaye in ihrem neuesten Werk »Ladivine« von drei besonderen Frauen. Zu berichten ist in Wirklichkeit von vier; denn die Autorin, seit Jahren in Berlin lebende Französin mit westafrikanischen Wurzeln, entfaltet eine literarische Stärke, durch die sie selber ebenso bemerkenswert wird.

Mutter, Tochter und Enkelin sind die Protagonistinnen des in der französischen Provinz, in Berlin-Charlottenburg und in Afrika spielenden Romans - drei Schauplätze, die der Autorin bestens bekannt sind. »Ladivine« heißen die Großmutter und auch ihre Enkelin. Die Tochter der älteren Ladivine hat zwei Namen: »Malinka« und »Clarisse«. Malinka nennt sie die Mutter, von der sie sich trennte um ihrer Selbstbestimmung willen. Sie besucht sie nur noch einmal im Monat heimlich in Bordeaux. Sie schämt sich dieser einfachen Frau und schämt sich der eigenen Scham.

Ihr eigenes Leben führt sie als Clarisse. Niemand weiß von ihrem anderen Namen oder von der Existenz ihrer Mutter. Sie heiratet den Autovertreter Richard Rivière, sagt auch ihm nichts von ihrer Herkunft und bekommt mit ihm die Tochter Ladivine Rivière. Clarisse und Richard führen eine Ehe voller Güte und Hingabe; ihr Kind lassen sie in paradiesischer Toleranz aufwachsen. Eines Tages aber hält der Mann diese Harmonie nicht mehr aus und verlässt Clarisse. Er zieht nach Annecy, heiratet eine andere und wird seine frühere Frau, die er weiterhin großzügig finanziell unterstützt, nur noch einmal zur Beisetzung seines Vaters sehen. Clarisse stürzt aus ihrem Glück - ohne je Groll gegenüber Richard zu empfinden - in ein spätes Abenteuer mit Freddy Moliger, einem vom Leben geschundenen Mann. Ihre Tochter Ladivine ist längst aus dem Haus und lebt verheiratet mit Marko Berger, einem Deutschen, in Berlin. Sie arbeitet als Französischlehrerin in der Volkshochschule, er als Verkäufer in der Uhrenabteilung von Karstadt. Sie haben zwei kleine Kinder. Über ein Geburtstagsgeschenk der Tochter Ladivine an ihre Mutter ist deren grober Partner Freddy so außer sich, dass er Clarisse ersticht.

Der Prozess gegen den Mörder lässt drei Jahre auf sich warten. Inzwischen nimmt der Leser am Leben der Enkelin Ladivine Berger in Berlin, an deren Ferien bei den kleinbürgerlichen Schwiegereltern oder an der nasskalten Ostsee teil. Bis beide auf einen Vorschlag von Ladivines in Annecy lebendem Vater in ein namenlos bleibendes afrikanisches Land reisen. Dort entwickelt sich der Urlaub mit den Kindern zu einem Alptraum. Ihr Gepäck wird noch im Flughafen gestohlen, und Marko sieht sich eines Nachts gezwungen, einen jungen Afrikaner über die Balkonbrüstung des Hotelzimmers zu stürzen. Sie rücken zu Geschäftsfreunden von Ladivines Vater aus und erleben dort im Busch weitere Katastrophen. Der über den Balkon geworfene Junge taucht unverletzt wieder auf. Ladivine verschwindet auf unergründliche Weise.

Nicht erst an dieser Stelle mischen sich die Plausibilität einer zuweilen skurrilen Realität und Elemente einer nicht erfahrbaren, unmöglichen Wirklichkeit. Ein Hund tritt an verschiedenen Stellen der Handlung auf - ein ebenso beschützender wie bedrohlicher Bote des Irrealen.

Die verstörende Handlung, in einer genauen, poetischen und von Claudia Kalscheuer wieder perfekt übersetzten, auch auf Deutsch nachzuempfindenden Sprache erzählt, stellt die Frage nach dem wahren Gesicht der Menschen. Sie leben jahrzehntelang zusammen und erkennen sich nicht, oder nur zu dem Teil, der ihnen zugewandt ist. Menschen sind wohl allemal verschlüsselt. Vielleicht gibt es ihr »wahres« Gesicht nicht, sondern nur ein je nach der Perspektive anderes. Wie sehr es Marie NDiaye in »Ladivine« um diese letzten Fragen geht, die sie mit ihren großartigen erzählerischen Mitteln aufwirft - sie kommt ohne jeden psychoanalytischen Deutungsversuch aus, wohl wissend, dass Literatur auf ihrem Niveau die bessere Möglichkeit ist, die rätselhafte Geschichte vom Menschen, von seiner condition humaine, von der Fragwürdigkeit seiner Existenz zu erzählen.

Marie NDiaye: Ladivine. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp. 445 S., geb., 22,95 €.

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