Alles vorbei

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Gerhard Gundermann 18 war, wollte er Politoffizier werden und ging an die Offiziershochschule, freiwillig! Kein Berufswunsch hätte mir fremder sein können, als ich 20 Jahre später im selben Alter war - und seine Lieder rauf- und runterhörte. Die Partei, deren Mitglied Gundermann war, bevor sie ihn rausschmiss, hieß schon nicht mehr SED, als ich diesen Sänger Anfang der 90er für mich entdeckte - und ich war froh, mit deren halsstarriger Altherrenriege nie in direkte Berührung gekommen zu sein. Die Stasi, für die Gundermann Berichte geschrieben hatte, bevor er selbst zum »Kontrollvorgang« wurde, war längst zum Inbegriff der Niedertracht geworden - mir war es unbegreiflich, wie man mit denen kooperieren konnte. Eigentlich hätte dieser Mensch, der immer im selben kragenlosen Fleischerhemd seines Vaters auftrat, mir - bemalte Lederjacke, grüne Haare - fremd sein müssen. Das Leben, das er geführt hatte und führte, hatte offensichtlich nicht viel mit meinem zu tun.

Einige von Gundermanns Liedern aber betrafen mich so unmittelbar, als habe er sie eigens für mich geschrieben. Eines, den »Terminator«, habe ich mir im wörtlichen Sinne angeeignet: Ich schrieb den Text ein wenig um und grölte es in einer Punk-Version, die seinen Kern, wie ich fand, erst richtig traf, bei Auftritten mit meiner damaligen Gymnasiastenband ins Mikrofon. Das kam auch bei Gleichaltrigen an, die Gundermann nicht von ihren Eltern kannten.

Ich war zum ersten Mal durch einen älteren Gitarrenlehrer in Berührung mit dieser Musik gekommen. Er brachte mir bei, Gundermanns »Gras« zu spielen. Auch dieses, im Vergleich zum »Terminator« viel sanftere Lied eignete ich mir an - mit einiger Mühe, was die Finger betrifft, Herz und Hirn aber begriffen es wie von selbst. Dabei waren es doch eigentlich Lieder für die Generation unserer Eltern, deren Leben viel fester als unseres in der DDR gewurzelt hatte und nun wie ausgerissen vor ihnen lag. Als das Kulturhaus am Ostrand Berlins, in dem ich damals arbeitete, ein Gundermann-Konzert im großen Festzelt auf einer Wiese veranstaltete, waren es kaum meine Mitschüler, die dorthin strömten, sondern mittelalte Frauen in Leinenkleidern und Blumenblusen und bärtige, Jeansjacken tragende Männer um die 40 - jedenfalls in meiner Erinnerung.

Während wir schwitzenden Schülerjobber von Gundermanns Management zur Bühnenoptimierung und Cateringbeschaffung durch die Gegend gehetzt wurden, tankten die Älteren in »Gundis« Liedern ostdeutsches Selbstbewusstsein - ein rarer Rohstoff damals - und kosteten ihr Beisammensein aus. Dieser schräge Kauz dort vorne auf der Bühne, dessen Halsadern beim Singen zu Benzinschläuchen anschwollen, er schien seinen laut mitsingenden Zuhörern kraft seines restutopischen Beharrungsvermögens ein Luftkissen aufzublasen, auf dem sie mal wie auf einem Trampolin wild herumhüpfen, in das sie sich dann wieder wie in ein Federbett schmiegen konnten. Irgendwie gönnte ich es ihnen ja auch.

Es ist diese geistig-mentale »Seilschaft«, die die Gundermann-Gemeinde bis heute - und sehr vereinzelt sogar über den Osten hinaus - zusammenhält. Aber geknüpft werden konnte sie zu keiner anderen Zeit als zwischen 1989 und dem Tod des Sängers in der Mittsommernacht 1998.

Die Frage, was für Lieder Gundermann heute singen würde, ist müßig, denn er singt keine mehr. Und wenn er noch sänge, ich glaube nicht, dass die Lieder des 60-Jährigen denselben Sog ausübten wie damals. Meine eigene Faszination an Gundermann, dem Menschen und seinen Liedern - ich glaube, sie war auch eine Faszination daran, in diesem dickköpfigen, rebellischen Baggerfahrer mit seiner proletarischen Lausitz-Poesie den letzten Vertreter einer untergehenden Art zu erleben, vielleicht den aufrechtesten, vielleicht den einzigen, den ich in der Kunstwelt als »echt« anerkannte.

Gundermann, dieser malochende Alleinkämpfer, der sich zeitlebens nie etwas anderes vorstellen zu können schien, als seinen ganzen Individualismus, sein ganzes Können in den Dienst einer gleichberechtigten Gemeinschaft zu stellen, dieser sich rücksichtslos selbst verheizende Poesie-Arbeiter, der ohne Schlaf von Konzert zu Schicht, von Schicht zu Konzert geeilt sein soll, weil er vom Werk seiner Hände leben wollte und nicht vom Ausverkauf seiner Kunst - für mich verkörperte er jenes sich seinem Untergang entgegenstemmende Prinzip, das der Soziologe Wolfgang Engler später in seinem Buch »Die Ostdeutschen« als »arbeiterliche Gesellschaft« bezeichnen sollte.

Ich gebe zu, dass meine Gundermann-Platten lange Zeit im Regal einstaubten. Als ich sie jetzt wieder herausholte und durchhörte, war das vor allem ein Erinnerungsrausch - ein beglückenderer freilich, als er sich beim Durchblättern alter Tageszeitungen einstellt. Diese Verse sind größer als der Anlass, aus dem sie entstanden. Heute, da ich selber so alt bin wie Gundermann auf seinem Zenit, und Vater von Kindern, geht mir ein Lied am meisten an die Nieren, das er einst für seine inzwischen längst erwachsene Tochter »Linda« schrieb: »du bist in mein herz gefallen / wie in ein verlass’nes haus ...«

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