Nichts vorbei

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Von Johannes R. Becher gibt es eine treffliche Definition für Begabung: Es sei die Fähigkeit, in gesellschaftlich aufschlussreiche Situationen zu geraten. Tagebau, Bühne, Armee, Stasi, Umschulungswerkstatt - Orte für gesellschaftlich sehr aufschlussreiche Situationen. In denen Gerhard Gundermann als Erfahrungssüchtiger lebte, ständig in Bewegung zwischen künstlichem Freiraum und wirklicher Lage. Er war immer Günstling und Gegner zugleich. War so unbenutzbar, wie er besessen darauf war, nützlich zu sein. War so unkäuflich wie drängend danach, seinen Beitrag zu leisten. War nie bereit, bloß die Strichfassung seiner Sehnsüchte zu leben. Aus Enttäuschungen ging er nicht fliehend, sondern arbeitend. Listig. »ich geb nicht auf, ich geb nur nach / ich werf die flinte ins korn / und merk mir wo ich sie hingeschmissen habe / neben meine abgerissnen ohrn«.

Genau das macht Dichtung offen, werdend: Enttäuschung. Die ist der trächtigste Kredit, den Gegenwart der Zukunft ausstellt. Denn nichts ist morgen vorbei; Aufbau ist Arbeit am Ruin; alles bleibt, wie es nie werden sollte; in Menschendingen ändert sich wenig. Manches freilich darf sich auch nicht ändern: etwa, dass man für ein Ziel quer über die Gleise geht. Eine Gangart Gundermanns. Nur Holzwege machen eine Gitarre möglich.

Im Auto hatte er einen Spaten, um überfahrene Tiere, die er unterwegs sah, begraben zu können. In seinem silbernen Metallkoffer, den er bei sich trug, stapelten sich unzählige praktische Gegenstände, vom Kabelknipser bis zur Teeschachtel mit Melissentee. Er war sonderbar. Ein asketischer Weltbenutzer. Erweckbar, erreichbar für die Utopie, dass eines Tages die Glashäuser der Effizienz und der Effektivität kapitulierwillig nach dem ersten Stein flehen. Er warf immer schon. Sich selber. Stürzte nieder. Viele stürzen nieder. Von ihm aber sagte man noch dort, wo Aufprall geschah: Flug! Wir denken dabei an seinen »Engel über dem Revier«.

Er heißt für viele noch immer Gundi. Ich habe ihn auch so genannt. Zutraulichkeit, Zudringlichkeit - irgendwo berührt das einander. Die Rede sei lieber von Gerhard Gundermann, einem deutschen Poeten. Wenn zum Beispiel Axel Prahl und Andreas Dresen zur Gitarre Gundermann präsentieren, dann höre ich nicht so sehr auf Prahl, denn der kann singen, professionell. Dresen jedoch rührt zutiefst, weil er sich - singend - den Texten so ganz anders nähert. Wie ein tastend Lesender. Der in den Versen diese andere Dimension bestaunt, dieses Existenzielle. Gundermanns Gedicht hatte immer ergreifender - als sei das Ende, das ihn so blitzartig treffen würde, schon sein Thema! - jene Augenblicke erfasst, die jeder Mensch kennt: Du stehst mit deinen Fragen einsam im Universum, und so ein Moment prägt sich dir ein, weil du keinen Ausdruck dafür hast. Aber ein Gedicht wird kommen! Wie ein Schiff. Am Schluss war der arbeitslose Baggerfahrer Gundermann Tischler, an besagtem Schiff hat er immer gebaut. Sein Werk weiß viel vom Leben. Es ist große deutsche Dichtung - ich hab’s nicht kleiner, will’s nicht kleiner.

Er schrieb: »hier bin ich geborn / so wie ins wasser fiel der stein / hier hat mich mein gott verlorn/ und hier holt er mich wieder ein«. Und den Fährmann sieht er, der nimmt die »bleichen seelen« ins boot, die wollen »weg vom hunger, weg vom durst / weg vom schnaps und von der wurst / weg vom geld und weg vom salz / weg vom fenster und vom hals«. Und dann: »lasst sie noch mal die enkel sehen / und überm haus ne wende drehn / und schüttet ihre sammeltasse glück in die Welt zurück«. Wo es dann versickert? Oder Keim ist für neues, kleines Glück? Es liegt ein so trauriges Zittern in diesen Versen, das kommt an Wilhelm Müllers »Leiermann« heran: »Und er lässt es gehen / Alles, wie es will.«

Gundermann lesen, an Schuberts »Winterreise« denken. Wilhelm Müller lesen, Gundermanns Lied hören. Gott, Tod, Abschied, Erlösung. »Die Dinge mehren sich, die ich nicht begreife: Ich bin lernfähig.« Gundermann hatte eine herrliche Freude daran, sich nicht zu ernüchtern. Ermüdung, das ja. Ermüdung ist der Anfang von Weisheit. Untauglich für Anfänge, aber aus Anfängen werden Heimwege. Die führten bei Gundermann von der Drachentötung zur Demut, von Lanzelot zu einem Denken im Lot, ohne alle Lanzen - es weitete seine Poesie. Man muss die Welt nicht leben, wie sie uns gern hätte. Aber man kann die Welt gern haben, indem man sie reich hält an Unerforschlichem. Und sich selber übt in Verzicht. »seltener verlässt mein herz den mund / zögernd strecken sich die hände / in den straßenstaub für einen fund / langsam lieb ich meine wände.« Gundermann liebte auch den Wald. Treue zu Bäumen, die nicht in den Himmel wachsen, gehört zum Naturschutz.

Dichter erzählen dir, was Schönheit ist: wenn das Leben an gefährdeten Stellen Glück hat. Die gefährdeten Stellen bleiben. Das Glück nicht. Aber jetzt hast du ein Bild davon. Bleib wach in den Rätseln, die es aufgibt. »ich bin nicht hier um zu gewinnen / ich bin am leben um es zu verliern / wo nichts verloren wird / ist nichts zu finden/ und wer sich wärmen will muss erstmal friern.« Gerhard Gundermann.

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