nd-aktuell.de / 21.02.2015 / Kultur / Seite 10

Die Gespenster der Zukunft

Arno Geiger gelang das einfühlsame Porträt eines jungen Mannes

Irmtraud Gutschke

Selbstporträt mit Flusspferd« - aber ein Selbstporträt des Autors aus früheren Zeiten ist es nicht, denn im Fernsehen werden die Olympischen Spiele in Athen übertragen und die Nachrichten aus Beslan, als im September 2004 nordkaukasische Terroristen in einer Schule über 1100 Kinder und Erwachsene in ihre Gewalt brachten. Jene Geiselnahme, die in einer Tragödie endete, führt dem Ich-Erzähler nur ein weiteres Mal vor Augen, dass Bedrohlichkeiten auf ihn warten. Mit dieser vagen Furcht ist er wohl nicht allein.

Julian Birk ist zum Zeitpunkt der Handlung 22 Jahre alt; immerhin hat er es in Wien schon zum Studenten der Tiermedizin gebracht. Ganz so zaudernd, wie er uns hier vor Augen tritt, kann er also nicht sein. Ein »Langweiler im Niedrigenergie-Modus« hieß es über ihn in einer Spiegel-Rezension, »ein vom Aussterben bedrohtes Wesen in einer jungdynamischen, durchdesignten Gesellschaft«. Da wollte Kulturredakteur Tobias Becker sich wohl gerne selber auf der Überholspur sehen. Es ist doch üblich, Unsicherheiten zu verstecken, sich »durchdesignt« zu geben, um in der Konkurrenz (über die nicht gesprochen wird) zu bestehen.

Insofern ist dieser Julian mutig, weil er ehrlich ist. Er spricht über sein Zweifeln, sein Zaudern, seine Ängste, seine Sehnsucht, er versucht nicht, seine Schwächen zu kaschieren, die ihm bleiben, auch wenn er Karate kann. Nach der Schule war er aus dem Dorf in die große Stadt gezogen, denn »dort werden mehr Menschen verwandelt als im Märchen. Aber ich hatte mir dieses selbstständige, verwandelte Leben schöner vorgestellt, weniger banal, weniger seicht. Und dann trafen sich zwei angeblich Verwandelte auf einer Party, und einer redete auf den anderen ein und sagte, wie großartig und cool dieses Leben sei …« Es ist ein Buch gegen die Lüge, gegen die falschen Bilder, gegen die Anpassung.

Und das Flusspferd? Julian verdient sich in den Semesterferien Geld, indem er auf dem Anwesen eines todkranken Professors ein Zwergflusspferd hütet. Was ihn beeindruckt: Wie selbstverständlich es in der Gegenwart lebt. »Ich beobachtete das Tier, ich empfand Zärtlichkeit für sein gemächliches, ängstliches, entscheidungsschwaches Wesen.« - Das darf man auch dem Autor zuschreiben: Der Langsamkeit, der Bangigkeit, der Schwäche hat Arno Geiger Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen. Wie in seinem preisgekrönten Roman »Der alte König in seinem Exil« über seinen alzheimerkranken Vater wird auch hier ein verstehender, gütiger Blick kultiviert. Julian darf erzählen. »Woher soll ich wissen, ob das normal ist. Und was normal ist … woher soll ich das wissen? Ich weiß es nicht? Weiß es irgendwer?«

Nachdem Judith sich von ihm getrennt hat - eigentlich hat er es gewollt, dann kam er damit nicht zurecht -, hatte es ihm Aiko angetan, des Professors eigenwillige Tochter, die (schon!) 27 ist, mit Julian schläft, ihm und sich selbst aber keine Verlässlichkeit zutraut. Wie sollte sie auch? Verlässlichkeit, Stetigkeit sind nicht eben Eigenschaften, die in der »jungdynamischen« Gegenwart besonders gewürdigt sind. Beweglichkeit und Leistungsfähigkeit werden verlangt, und wer seine Überforderung nicht zugibt, gar verdrängt, wird dennoch daran kranken.

Insofern ist »Selbstporträt mit Flusspferd« ein scharfsinniger Gesellschaftsroman. Julians Dilemma ist ein typisches. An Judith hatte ihn gestört, dass sie sein junges Leben schon in feste Bahnen lenken wollte. Bei Aiko quält ihn, dass sie nicht an Liebe für immer glaubt. »Die Gespenster der Zukunft regen sich«, denkt er, als er das an ihr bemerkt.

Natürlich hat Arno Geiger mit seiner schönen bildhaft-geschmeidigen Sprache Julian auch manches von seiner eigenen Lebensweisheit mitgegeben, aber wer sagt denn, dass ein junger, belesener Mann das nicht auch so formulieren könnte. Hellsichtigkeit ist herausgefordert auf kurvenreichen Strecken, an Abgründen entlang.

Wachstumsschmerzen: »Finde ich meinen Platz oder gehe ich unter?« Die wunderbare Freiheit, unter vielen Möglichkeiten zu wählen, sie koppelt sich an ein dauerndes Gefühl des Ungenügens - und an Vereinzelung. Gewiss doch, letztlich ist jeder mit den Herausforderungen des Lebens und Sterbens allein, wie man an der standhaft ertragenen Bitternis des krebskranken Professors sieht. Aber die westliche Welt lässt im Grunde auch jüngere Menschen ohne Sicherheiten, für die sie sich dann allerlei Ersatz suchen müssen.

Es gibt schon zu Anfang des Buches eine schöne Passage über den angeblichen Zauber der Kindheit. »Ich glaube, wenn Erwachsene darüber reden, dass sie sich das Kindliche bewahren wollen, den Kinderblick, dann deshalb, weil sie gerne herrisch und rechthaberisch sind, gegen alle Ungewissheit«, überlegt Julian. Ungewissheit sei Kindern ein Graus, sie seien immer »voller Argwohn, dass sich die Dinge verändern«.

Wenn das so ist, wäre da nicht ein Bogen zum Alter geschlagen? »Je mehr Ungewissheit, umso älter fühle ich mich«, meint Julian. - Man hätte sich eine neuerliche Begegnung mit Aiko gewünscht. Aber wie anders hätte der Autor den Roman enden lassen können als im Offenen?

Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd. Roman. Hanser. 288 S., geb., 19,90 €.