Schön wie die Wälder der Bukowina

Marion Tauschwitz: Eine verdienstvolle Biografie der Selma Merbaum

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Von »Wortklarheit« und »Menschenzärtlichkeit« spricht Iris Berben im Vorwort zu diesem Buch. Schönere und treffendere Begriffe lassen sich für die Verse der jungen Dichterin Selma Merbaum kaum finden. Es ist, als ob sich in ihnen die Landschaft, die Natur und selbst die Menschen der Bukowina, des »Buchenlandes«, spiegeln. Auch die Gedichte, die voll Melancholie und Aufbegehren sind, haben diese »Wortklarheit« in sich: »Auf der halbvergilbten Seite / liegt das dünne, gelbe Blatt, / liegt es traurig zart und matt / wie ein Tränenblick ins Weite ...«, schreibt die sechzehnjährige Selma im Februar 1940. Reifer, intensiver heißt es in »Poem« vom Juli 1941: »Ein Leben / kann Schatten werfen / über den / Mond ...« und wenig später, im Dezember des gleichen Jahres: »Das ist das Schwerste. sich verschenken / und wißen, daß man überflüssig ist, / sich ganz zu geben und zu denken, / daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.«

Marion Tauschwitz berichtet, die Lyrikerin Hilde Domin (über die sie eine Biografie schrieb) habe die Verse von Selma Merbaum, als sie sie erstmals las, »Gedichte, zum Weinen schön« genannt und sich sofort intensiv für deren Veröffentlichung in Deutschland eingesetzt. 1980 erschienen sie erstmals in Hamburg unter dem Titel der Verszeile: »Ich bin in Sehnsucht eingehüllt« (und mit falschem Namen Merbaum-Eisinger), 1981 gab es in der DDR eine Auswahl in der Reihe »Poesiealbum«. Die Gedichte der jungen Dichterin traten, wenn auch verspätet, eine Art »Siegeszug« in die Weltliteratur an und gelangten sogar in das Repertoire von Musikern und Schauspielern wie Hermann van Veen, Herbert Grönemeyer, Reinhard Mey, Yvonne Catterfeld, Jasmin Tabatabai, David Klein und eben auch - von Iris Berben. In diesem Zusammenhang lohnt der Blick in die Anmerkungen des Buches, wie darin überhaupt viel wertvolle, weiterführende Literatur genannt wird. Der Intensität der Verse Selma Merbaums ist auch der Herausgeber Helmut Braun erlegen, indem er dem jüngsten Gedichtband mit einem Essay (2013) den Titel: »Du, weißt du, wie ein Rabe schreit« gegeben hat.

Im Gegensatz zu Bekanntheit und Inanspruchnahme der Dichtung ist das Leben (und Sterben) von Selma Merbaum fast gänzlich unbekannt geblieben. Hier schließt jetzt Marion Tauschwitz mit ihrer gründlich recherchierten Biografie eine Lücke. Die in Czernowitz aufgewachsene Jüdin Selma Merbaum starb, erst achtzehnjährig, am 16. Dezember 1942 in dem deutschen Zwangsarbeitslager Michailowka in der Ukraine an Flecktyphus. Hinter ihr lagen da schon Zeiten der Bedrängung, der Ängste und immer wieder neuer Hoffnungen. Sie sind ganz unmittelbar in die Gedichte eingeflossen, von denen 58 handschriftlich erhalten blieben und auf verschlungenen Wegen in die Öffentlichkeit gelangten.

Selma Merbaum teilte das grausame Geschick der Vernichtung mit Millionen Unbekannter, deren Namen und Gesichter wir nicht kennen. Marion Tauschwitz gibt der Dichterin nicht nur Gesicht und Stimme, sondern auch Gestalt und Wesen zurück. Sie ist in jahrelangen Recherchen in der Ukraine, in Gesprächen mit überlebenden Freunden in den USA und in Israel den Spuren Selma Merbaums, ihrer Familie, ihren Freundschaften nachgegangen. Man begegnet dem fröhlichen, eigenwilligen, verliebten und selbstbestimmten jungen Mädchen, das sich in der zionistischen Gruppe Hashomer Hazair engagiert, Gleichgesinnte findet, ihre Gedichte verschenkt und Gedanken mit ihrem Cousin Paul Celan austauscht.

Das Buch von Marion Tauschwitz ist zweigeteilt in Biografie und Gedichtteil. In die Biografie ist aber noch ein Drittes eingeflossen: die lebendige Schilderung der Atmosphäre jener Jahre in Czernowitz, der die Dichtung von Paul Celan und Rose Ausländer entsprang. Ob Selma Merbaum sich später in dieses Dichtergestirn mit eingeschrieben hätte, muss offen bleiben, dafür starb sie zu jung. Doch die Wünsche eines ihrer besten Gedichte erfüllten sich - wenn auch anders als gedacht: »Ich möchte leben ... / und möchte den Himmel mit Händen fassen … .«

Marion Tauschwitz: Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Biografie und Gedichte. Zu Klampen Verlag. 350 S., geb., 28 €.

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