nd-aktuell.de / 02.03.2015 / Politik / Seite 3

Reformer mit Charisma

Axel Eichholz, Moskau

Niemand habe sich noch am Vortag vorstellen können, dass der Oppositionsführer Boris Nemzow an der Kremlmauer umgebracht werde, sagte der russische Ex-Regierungschef Michail Kasjanow, der sofort zum Tatort geeilt war. Zusammen mit Nemzow führte er den Vorsitz in der Oppositionspartei RPR-PARNAS. Diese demonstrative Aktion habe alle Freidenker Russlands einschüchtern sollen.

Vor zwei Wochen hatte Nemzow in einem Interview die Befürchtung geäußert, Wladimir Putin könnte ihn umbringen lassen. Der Präsident ließ nun über seinen Sprecher Dmitri Peskow verbreiten, bei der Bluttat vom Freitag handle es sich um einen Auftragsmord und eine Provokation. »Bei allem Respekt für das Andenken Boris Nemzows, er stellte in politischer Hinsicht keine Gefahr für Wladimir Putin dar«, sagte Peskow. Wenn man dessen Popularitätsraten mit denen Putins vergleiche, »so war er nur ein bisschen mehr als ein Normalbürger«.

Dabei passte auf Nemzow das Beiwort »brillant« in jeder Beziehung. Der studierte Physiker hatte zunächst in einem Forschungsinstitut gearbeitet, bevor er noch in der Endzeit der Sowjetunion 1990 zum Abgeordneten gewählt wurde. Nach der Wende schlug er sich zu den liberalen Reformern und wurde im ungewöhnlich jungen Alter von 31 Jahren 1991 der jüngste und erfolgreichste Gouverneur Russlands in Nischni Nowgorod. Die Region und ihre Hauptstadt, der frühere Verbannungsort Gorki, galten rasch als Vorzeigeregion erfolgreicher marktwirtschaftlicher Reformen.

1997 holte der damalige Präsident Boris Jelzin ihn als Vizeregierungschef nach Moskau. Für kurze Zeit erklärte Jelzin seinen Liebling sogar zu seinem designierten Nachfolger, bis seine Umgebung ihn zwang, diese Entscheidung zurückzunehmen.

Boris Nemzow war eine charismatische Figur. Nach Putins Machtantritt ging er in die Opposition. Im Spätherbst 2013 zeigte er sich auf dem Kiewer Maidan, um die ukrainische Demokratiebewegung zu unterstützten. Politiker jeder Couleur und namhafte Künstler wie die Popkönigin Alla Pugatschowa zählten ihn zu ihren Freunden.

Frauen flogen ihm zu, und er hatte vier Kinder von drei verschiedenen Müttern, die er als seine »Großfamilie« behandelte. Andere Freundinnen fanden kaum Erwähnung. Am Freitagabend hatte der 55-Jährige mit dem 23-jährigen Kiewer Modell Anna Durizkaja in einem Restaurant gegenüber dem Lenin-Mausoleum am Roten Platz gegessen und beide schlenderten anschließend an der als Wahrzeichen Moskaus bekannten Basilius-Kathedrale vorbei zu der Großen Moskwa-Brücke. Dort fielen eine knappe halbe Stunde vor Mitternacht die tödlichen Schüsse.