Die Schweine aus der Bibel sind wir?

Dostojewskis »Dämonen« am Schauspiel Frankfurt, Regie: Sebastian Hartmann

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Was bleibet, stiften die Dichter? Hölderlin, ja. Aber was erst noch kommen wird, das sagt der Dichtergeist auch. Fjodor Dostojewski? Fjodor Kassandrow! Sein Menschenbild im Russland des 19. Jahrhundert als Szenerie fürs kommende Säkulum. Das Programmheft zitiert Albert Camus: Lange habe man Marx für den Propheten des 20. Jahrhunderts gehalten, das aber sei Dostojewski, »er hat den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgesehen.«

Sebastian Hartmann hat am Schauspiel Frankfurt am Main die »Dämonen« Dostojewskis inszeniert; mit dem Dramaturgen Michael Billenkamp schrieb er eine eigene Fassung. Aus dem, was diese Aufführung dem Roman entnimmt, grinst das Herrenmenschentum, palavert kommunismuskalt der neue Mensch, schmollt der moderne Narziss und räsoniert zynisch der noch modernere Endverbraucher seiner selbst. Zitiert wird aus dem Lukas-Evangelium: Böse Geister, die Dämonen, fahren in eine Herde Schweine, die stürzen sich ins Meer und ersaufen. »Die Schweine sind wir«, kommt's vom Sterbebett. Blick ins Publikum - wir, ihr. Was denn, wir? Nee. Oder doch?

Der Roman wird nicht nacherzählt, keine der Figuren trägt einen Namen, die Gestalten des Buches: ahnbar, mehr nicht. Keine Abfolge, sondern Sprengsel. Fauchende Fetzen. Allegorie. Übertragbarkeit. Von Russland ist nicht die Rede. Wer Dostojewski will: ab unter die Leselampe! Hier ist Hartmann! Was stattfindet, ist ein viereinhalbstündiges Gründeln in jener menschlichen Not, im Weltall der Seele eine Tür zur Erfüllung zu finden und sie hinter der Welt zuzuschlagen. Gottsuche per Selbstmord, Despotiefieber, Anarchoanfälle, Familienelend. Jeder peinigt jeden, so gut er kann. Menschen drehen gleichsam an den Lautsprechern der Verständigung, bis sie im Dröhnen des eigenen Schreis zusammenbrechen. Eine schwarzgewandete Messe jenes Bösen, das bedauernswert ist, und jenes Erbärmlichen, das ungeniert seine Mordlüste gesteht. Auf der Bühne Gestalten, die sich fortwährend ein ekstatisches, ein bleiblutschwer trauriges, ein federleicht mit Verachtung spielendes Liebes- und Hassduell liefern. Zwischen Western-Melancholie und lustvoll finsterer Liturgie. Dass der Mensch Trost nötig hat, macht ihn arm, dass er kaum Trost geben kann, macht ihn elend, aber dass ihm eine große Bedürftigkeit nach Trost immer wieder nachwächst, das macht ihn reich - und das lässt, im Dreck, viel Glanz flackern.

Eine Holzhütte und eine hohe Zwiebelturm-Wand formt Hartmann auf der großen, bis zur Brandmauer aufgerissenen Bühne zu einem fortwährenden, beeindruckenden Kulissen-Ballett. Die Schauspieler schieben ächzend. Scheinwerfer-Batterien gleißen. Nebel verschluckt Raum und schafft Welt. Die Beleuchterbrücken hoch oben: hell sichtbar. Kunstblut aus Flaschen. Zwei Live-Musiker am Rand - die Komposition von »Apparat« Sascha Ring legt einen süchtig wehmütigen, leidvoll singenden, ziehend weltfernen Sound über die Szenerie. Aus Fässern züngeln Flammen. Es brennt! Die Menschen machen panisch einen Satz hinaus ins Freie, das es hier gar nicht gibt. Die Wahrheit macht auch einen Satz: »Es brennt in den Köpfen und nicht auf den Dächern!« Immer wieder rennen die Spieler weitkreisig um die Holzhütte. Gehetzte. Ziel- und Atemlose. Bewegung als Technik, sich selber zu geißeln, sich die Luft zum nehmen. Aber das Pathos der Selbstzerfleischungen und Wegwerfphantasien bricht Hartmann auch ironisch und kalauernd - Schauspieler reichen Tee ins Publikum, bedrohen die Souffleuse mit der Pistole (»Text!«), man streunt in privater Pose über die Bühne. Bühnenarbeiter tragen Sessel hinaus, mitsamt der darauf sitzenden Schwadroneure.

Was Hartmann inszeniert, will Wucht sein, muss expressive Szene werden, wird Schlacht und Orgasmus zwischen Licht und Finsternis. Das hat Kraft, Sog, aber dies Können kumpelt auch mit dem Krampf, die Ambition zeigt mitunter Hirnmuskel - gezirkelte Konstruktion und bebender Rausch bedingen, bedrängen, aber behindern auch einander. Was freilich unbedingt für diesen Regisseur spricht, das ist sein ungebändigter Behauptungswille: Theater bleibt ihm ein Vorgang eigenen Rechts, der Texten nicht huldigt, sondern sie hernimmt als Material für derbe, düstere, dräuende Laut-Malereien. Vielleicht träumt er von gewaltigen Filmbildern, von geradezu balladesken Kamerafahrten, wie sie bei Wenders oder Antonioni vorkommen, die Welt dreht sich, der müde Held inmitten, und rundum das 360-Grad-Panorama aus Wüste, Wind und beißendem Sand. Damit er inszeniert, müssen sich Zeit und Blut streiten, wer ausdauernder tropft; muss die Leere Liebeslieder auf die menschliche Seele singen wollen; muss Ver-Körperung stattfinden können, also die Begegnung von hybrider Beschwingtheit und mahnender Behinderung.

Lang ist der Abend. Zerrend. Atmosphäre als Erlebnis, das man auch ertragen, erleiden muss. Hartmann hält sich eisern durch. Immer wieder findet die Inszenierung zu bezwingender Dichte. Paare stürzen ineinander wie erschöpfte, aufgepeitschte Soldaten. Geständnisse sind wie Aussagen unter Folter. Besagte Gottsuche steigert sich auf dem Dach der Holzhütte zur grandiosen Clownsszene zu zweit. Der Bericht von einem Duell wird zum Weibssolo mit unzähligen Pistolenschüssen, vor deren Lautstärke schon ein Schild im Foyer gewarnt hatte. Zehn fulminante Spieler. Der düster undurchsichtige Isaak Dentler. Die schrille Franziska Junge. Die so flunschige, dann wieder lächelnd verneinunungsgierige Linda Pöppel (»der Mensch muss aufhören, zu gebären«). Der jakobinisch fanatische Brüller Vincent Glander. Die aufgeschreckte, liebeszerschmerzte Paula Hans. Manuel Harder: ermatteter Erlösungssucher, aufgeheizter Ich-Vernichter. Der beladen nachdenkliche Christian Kuchenbuch. Heidi Ecks als eine Verlassene, beherzt und verkupplungspraktisch, sie gibt gemeinsam mit Michael Benthin - inmitten der Verruchten - ein Duo sonderlicher Gefasstheit und anstandstapferer Kultur. Skurrile Fremdkörper im Brachialschmutz. Großartig witzig, wie Benthin einen Auftrag zur Heirat »erleidet«: im Schwall der befehlenden Ecks minutenlang zur Stummheit verurteilt - tapfer stammelt der Körper Gegenwehr, aber es sind nur immer neue Gesten der Hilflosigkeit. Der sprach- und gehbehinderte Tolga Tekin tanzt, gibt ein Kind, das schreiend geboren wird, ist Mittelpunkt beim Reden über Harmonie - und wenn auch er eine große Bühnenrunde läuft, dann verstärken Lautsprechertöne jeden Schritt, den sich der Körper in Schwerarbeit abringt. Oft in seinen Inszenierungen feiert Hartmann das Wesen und Wunder des Menschlichen just in Belegen der Zerbrechlichkeit und des Trotzes gegen Schicksalsschläge. Behinderte auf seiner Bühne: Relativierungsgleichnisse und Hohelieder zugleich.

Natürlich wäre es ein schöneres Gefühl, aus dem Theater zu gehen und Gutes erfahren zu haben. Nämlich: Ich bin noch empfänglich, ich bin noch berührbar, in mir ist noch Platz für etwas Erhebendes, das aus vergangenen Zeiten auf mich zukommt - als dürfe man so die Idee der besseren Zukunft als eine Unumstößlichkeit glauben. Theater als Weihe des aufrichtenden Gedankens, Gefühls. Sebastian Hartmann pflichtete dem wohl gerne bei, aber eben nicht, ohne jene schonungslos letzten, bösen Fragen zu stellen, die »draußen« fortwährend übertüncht werden. Also: so inszenieren, als wolle man mit Nietzsche sagen: »Lieber sterben, als hier leben« - dafür darf in einem Text alles »getötet« werden, was gar zu milde stimmen könnte. Bis das Bild stimmt: Gegenwart. In der nicht Menschen, sondern Dämonen Gott näher kommen: Sie erleben fortwährend Auferstehung.

Nächste Vorstellungen: 2., 19. März

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