Das ernste Leben leicht gezeichnet

»Über Tisch und Bänke - die einzigartige Bilderwelt von Ilon Wikland« im LesArt

  • Samuela Nickel
  • Lesedauer: 3 Min.

Angezogen von den Illustrationen an den Fensterscheiben, erwartet den Besuchenden der Ausstellung im LesArt, dem Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur, ein überraschendes Abenteuer. Ilon Wikland, 1930 im estnischen Tartu geboren, hat über Jahrzehnte die Geschichten von Astrid Lindgren illustriert und das Gesicht der Lindgren-Figuren geprägt. Anlässlich des 85. Geburtstages der Kinderbuchillustratorin findet nun die erste Werkschau in Deutschland statt. Ein Schwerpunkt der Ausstellung »Über Tisch und Bänke« ist auf die Biografie der Künstlerin gesetzt. Im Alter von 80 Jahren begann sie, ihre eigene Geschichte in Bildern aufzuarbeiten.

Wikland lebte in Tallinn und wuchs später bei ihren Großeltern im estnischen Haapsalu auf. 1944, als sie 14 Jahre alt war, wurde sie von ihrer Familie auf ein Flüchtlingsschiff nach Schweden gesetzt, wo sie bei ihrer Tante, der Künstlerin Valentine Laroche, unterkam. Ihre Kindheitserlebnisse verarbeitete sie in »Mein unglaublicher erster Schultag« und in »Die lange, lange Reise«. Ihre Biografie ist eine Flüchtlingsgeschichte, die von Entwurzelung und Auf-sich-gestellt-Sein erzählt. In den Zeichnungen von Wiklands Kindheit ist eindeutig Tallinn mit seinen mittelalterlichen Gassen, der Alexander-Newski-Kathedrale und dem Marktplatz zu erkennen. Auf einigen der Bilder hängt eine Ikone in der Zimmerecke. Es wird von Soldaten, Hausdurchsuchungen und Deportationen erzählt.

In zarten Illustrationen bildet Wikland damit auch die Geschichte Estlands ab. Das Land war im 20. Jahrhundert von wechselnden Besatzungen geprägt: durch Truppen des Russischen Reiches, der Sowjetunion, der deutschen Nationalsozialisten und abermals der SU.

Die Illustrationen wechseln von bunter Leichtigkeit zu mutloser Verlorenheit, wenn das kleine blonde Mädchen in »Die lange, lange Reise« allein im großen Bett sitzt und den Betrachter aus dunklen Augen ansieht und im Bild darauf einsam seine Koffer packt. Die Illustrationen berühren zutiefst. Besonders die Zeichnung, auf der das kleine Mädchen seinen toten Hund in den Armen hält, das weiße Eis ringsum ist schwarz und rot gefärbt. Der Hund ist Ilon Wiklands wirklichem Hund Tito nachgezeichnet, der während der Besatzungszeit erschossen wurde. In Wiklands Geschichten heißt er Sammeli, er begleitet sie in ihrem Schaffensprozess. In vielen Geschichten lässt sie ihn durch das Bild laufen.

Zur Eröffnung der Ausstellung drückte Ilon Wikland auch ihre Besorgnis aus über das heutige Schicksal vieler Kinder, die zur Flucht gezwungen sind. Sie war selbst vor Krieg und Menschenrechtsverletzungen geflohen, einem ungewissen Schicksal in einem fremden Land entgegensehend. Wikland beschäftigt sich im Kontext ihrer eigenen Erfahrungen mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre, mit den vielen minderjährigen Flüchtlingen weltweit. Somit setzt die Ausstellung auch ein politisches Zeichen.

Ein weiterer Schwerpunkt der Werkschau liegt auf der Zusammenarbeit Wiklands mit Astrid Lindgren - Wikland illustrierte zahlreiche Bilderbücher Lindgrens, von »Ronja Räubertochter« über »Karlsson vom Dach« bis hin zur kleinen »Lotta aus der Krachmacherstraße«. Deutlich wird, wie sich Wiklands Stil während ihrer siebzigjährigen Schaffenszeit gewandelt und weiterentwickelt hat. Die Illustrationen wechseln von schwarz-weißen Feder- und Kohlezeichnungen zu stark konturierten Darstellungen in satten Farben oder konturlosen flächenhaften Tuschzeichnungen von Häusern, Straßen, Tieren und vor allem: kleinen Kindern.

In der Ausstellung hängen mehr als 150 Originale, Skizzen und Bilderbuchcover. Der Rechercheaufwand sei enorm gewesen, erklärt Sabine Mähne, Leiterin des LesArt. Mehr als 1000 Originale wurden gesichtet, viele davon aus der Sammlung des Museums »Ilons Wunderland« in Haapsalu, dem Wikland über 800 Exemplare gespendet hat.

Die Ausstellung ist abwechslungsreich und somit für Kinder, Jugendliche und Erwachsene spannend.

LesArt, Weinmeisterstraße 5, Mitte, bis 30. Juni 2015, Di, Mi, So: 14-18 Uhr

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