nd-aktuell.de / 07.03.2015 / Kultur / Seite 16

Die K-Fragen

Naomi Klein stellt in ihrem neuen Buch Grundprinzipien des »Westens« in Frage: Kapitalismus und Wachstum

Guido Speckmann

Holen wir etwas weiter aus, um die Bedeutung dieses Buches zu ermessen. Was ist der »Westen«? Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit fallen einem dann meistens ein. Und es ist ja auch richtig. Das Bürgertum hat im Ringen mit feudal-klerikalen Kräften in einem längeren Prozess diese liberalen Werte in den Verfassungsrang heben können. Doch bereits in der wichtigsten bürgerlichen Revolution, der französischen von 1789 bis 1794, die sich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf die Fahne geschrieben hatte, war sowohl ein Überschuss - die Gleichheit - als auch in ihren sozialen Trägerschichten ein Widerspruch eingeschrieben. Dieser sollte die Ungleichheit nicht beseitigen, sondern auf lange Sicht noch verstärken. Im dritten Stand des französischen 18. Jahrhunderts fand sich ein späterer Proletarier genauso wie ein späterer Großbourgeois. Das Großbürgertum wurde bald die treibende Kraft des über Europa hinaus expandierenden Kapitalismus und Imperialismus - und trug damit dazu bei, dass sich die soziale Ungleichheit auch auf die internationale Ebene erstreckte. Bis dahin hatte es noch keine großen Unterschiede im Lebensstandard zwischen dem heutigen »Westen« und dem Rest der Welt gegeben. Mike Davis beschreibt daher die Ausbreitung des liberalen Kapitalismus in seinem Buch »Die Geburt der Dritten Welt« (2004) als eine Entwicklung, die Millionen von Opfern forderte. »Millionen starben nicht außerhalb des ›modernen Weltsystems‹, sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen.«

Und eben das - die verheerenden Folgen des liberalen Gedankens im Bereich der Ökonomie - macht die Janusköpfigkeit des »Westens« aus -, die freilich von ihren Repräsentanten gewissenhaft verschwiegen wird. Marktwirtschaft, Kapitalismus und Freihandel gelten ihnen im Gegenteil als Garanten für Wachstum und Wohlstand. Selbst die offenkundig verheerenden Folgen des Immermehr für die Ökosphäre sollen durch liberale Prinzipien eingedämmt werden. Ein Emissionshandelssystem wird gegen den Klimawandel in Stellung gebracht, vorher externalisierte Kosten sollen internalisiert werden, die Natur einen Preis bekommen. Kurz: Ein grüner Kapitalismus soll es richten. Man selbst habe ja schon die CO2-Emissionen verringert und setze auf erneuerbare Energien, sagen die Führer der freien Welt, während ein Finger auf die aufstrebenden Nationen China und Indien zeigt, die immer mehr Dreck in die Welt blasen.

Hier kommt Naomi Klein mit ihrem neuen Buch »Die Entscheidung. Klima vs. Kapitalismus« ins Spiel. Sie sagt, Moment mal. Wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte nicht vergessen, dass drei Finger auf ihn zurückzeigen. So führt sie Studie um Studie an, die diese Sicht dekonstruieren. Eine etwa hat die Emissionen jener Staaten untersucht, die das Kyoto-Protokoll unterzeichnet haben. Das Ergebnis: Zwar haben sich ihre Emissionen im Land selbst nicht erhöht, aber nur weil es der internationale Handel ihnen erlaubt habe, ihre umweltbelastenden Produktionen in andere Länder zu verlagern. Die Wissenschaftler schlussfolgern, dass der Anstieg der Emissionen durch die in Entwicklungsländern produzierten, aber in den Industriestaaten konsumierten Waren sechsmal höher sei als die eingesparten Emissionen in den Industrieländern.

Nachdem die Industriestaaten also durch den Export des liberalen Kapitalismus die Welt in eine »Dritte« und eine »Erste« schieden, sind sie heute hauptverantwortlich dafür, dass die Länder des globalen Südens auch noch am heftigsten von den ökologischen Folgeschäden dieses Prozesses betroffen sind. Die Vordenkerin der globalisierungskritischen Bewegung beschreibt die Klimakrise als eine, die unser Überleben als Spezies bedroht: »Große Städte werden aller Voraussicht nach im Meer versinken, alte Kulturen werden von den Fluten verschlungen, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass unsere Kinder einen Großteil ihres Lebens damit verbringen werden, vor bösen Stürmen und extremen Dürren zu fliehen oder sich davon zu erholen.«

Das in der Vereinbarung von Kyoto festgelegte Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf zwei Grad sei längst utopisch geworden. Die kanadische Autorin belegt das mit Studien von Weltbank und Internationaler Energieagentur. Erstere prognostiziert eine Vier-Grad-Erwärmung bis zur Jahrhundertwende. Letztere geht gar von sechs Grad aus. Klein erinnert daran, dass selbst ein Plus von zwei Grad schon die »Todesstrafe« für einige tiefliegende Inselstaaten sowie für große Teile Afrikas südlich der Sahara bedeute.

Vergegenwärtigt man sich diese Folgen - hinzu kommt noch die Gefahr der sogenannten Kipppunkte -, mutet es umso paradoxer an, dass die Politik nicht in der Lage ist gegenzusteuern, sprich die Emission von Kohlenstoffdioxid zu verringern. Und es ist ja sogar so, dass nicht nur nichts getan wird, sondern dass das Problem noch weiter verschärft wird. Zum Beispiel durch die Subventionierung von fossilen Brennstoffen in Höhe von jährlich 775 Milliarden bis zu einer Billion US-Dollar. Zudem, so die Autorin, werde die Förderung von grünen Energieformen mitunter durch die Welthandelsorganisation als Verstoß gegen das Prinzip des freien Marktes unterbunden. Klein kontrastiert die Reaktion der Politik infolge der Bankenkrise mit der Klimakrise: »Beim Klimawandel aber hat unsere politische Führung noch nie solche Krisenmaßnahmen ergriffen, obwohl er das Risiko birgt, sehr viel mehr Leben zu vernichten als ein paar kollabierte Banken oder Gebäude.«

Warum aber ist das so? Hier dringen wir zum springenden Punkt der Klein’schen Argumentation vor. Und dieser ist die K-Frage, die nach dem Kapitalismus. Klein: »Wir haben nicht die notwendigen Dinge getan, um die Emissionen zu reduzieren, weil diese Dinge in fundamentalem Widerspruch zum deregulierten Kapitalismus stehen, der herrschenden Ideologie, seit wir uns um einen Weg aus der Krise bemühen.« Wir kämen nicht weiter, weil die besten Maßnahmen eine extreme Bedrohung für eine elitäre Minderheit darstellten. Damit meint sie zuvörderst die großen Energiekonzerne.

Klein zeigt, dass das Ende des Kalten Krieges und der Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus mit seinen Prinzipien Deregulierung, Privatisierung, Entfesselung der Marktkräfte und des Freihandels sowie des waschenden Konsums für den Anstieg der CO2-Emissionen verantwortlich sind. Vor der neoliberalen Ära sei der Emissionsanstieg von 4,5 Prozent jährlich in den 1960er Jahren auf rund ein Prozent pro Jahr in den 1990er Jahren zurückgegangen. Ab 2000 stiegen die CO2-Emissionen um rund 3,4 Prozent jährlich.

Gegen den deregulierten Kapitalismus anzugehen und damit das Klima zu retten, ist freilich keine einfache Aufgabe. Doch Klein sieht die Klimafrage als katalysierende Kraft. Der Klimawandel liefere den progressiven Kräften das beste Argument für ihre Forderungen wie die nach der Wiederbelebung der regionalen Wirtschaft, der Verteidigung der Demokratie gegen den Einfluss der Großkonzerne, Widerstand gegen neue Freihandelsabkommen, Investitionen in öffentliche Infrastrukturen, die Rückgängigmachung von privatisierten Dienstleistungen oder die nach der Einführung einer anderen Landwirtschaft. Und sagt mit Recht, wir haben nicht nur die technischen Hilfsmittel für eine Abkehr von fossilen Brennstoffen, sondern auch unzählige Nischen, in denen ein klimafreundlicher Lebensstil bereits enorm erfolgreich erprobt werde.

Kleins neues Buch dürfte - darauf deuten die intensiven englischsprachigen Debatten hin - ihr wichtigstes sein. Schon wird es mit Titeln wie »Der stumme Frühling« (1962) verglichen, das als Ausgangspunkt der weltweiten Umweltbewegung gilt. Die K-Frage bleibt indes: Ist ihre Argumentation anschlussfähig für (öko)sozialistische und marxistische Ansätze? Manche bejahen das. Doch es fällt auf, dass Klein begrifflich weniger den Kapitalismus an sich als den in seiner deregulierten und neoliberalen Ausformung als entscheidendes Hindernis für die Abwendung der Klimakatastrophe ansieht. Andererseits steht ihre radikale Infragestellung des Wachstumsparadigmas im fundamentalen Widerspruch nicht nur zum deregulierten Kapitalismus.

Naomi Klein, Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima, Fischer Verlag, 704 S., geb., 26,99 €.