nd-aktuell.de / 11.03.2015 / Kultur / Seite 35

Schreiben als Therapie

Polina Scherebzowa begann schon als Kind ihr tschetschenisches Tagebuch

Sabine Neubert

»Ich kann gar nicht glauben, dass das schon der dritte Krieg in meinem kleinen Leben ist! Der erste war 1994 (da war ich neun). Der zweite - im Sommer 1996 (vom 6. bis 11. August, ich war elf). Ach, wie viele Nachbarn damals umgekommen sind! Und jetzt der dritte: Herbst 1999 (ich bin vierzehn).« Das ist nur eine der unzähligen erschütternden Eintragungen des Mädchens Polina Scherebzowa in ihr Tagebuch.


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* Polina Scherebzowa: Polinas Tagebuch. A. d. Russ. u. mit Nachwort v. Olaf Kühl.[1]
Rowohlt Berlin. 592 S., geb., 22,95 €.


Zwei Jahre später, im Februar 2001, heißt es noch deutlicher: »Der Krieg hat meine Kindheit gründlich massakriert, jetzt, mit sechzehn, bin ich krank ... Außer Krieg und Massendiebstählen habe ich fast nichts gesehen ... «

Grosny 1994 bis 2001: Erster Tschetschenienkrieg, zweiter Tschetschenienkrieg, dazwischen, danach: Bombardierungen, Straßenkämpfe, Artilleriebeschuss, Explosionen, ethnische Säuberungen, Zerstörungen, Trümmer, Plünderungen, Grausamkeiten, Hunger, Elend, unvorstellbares Leid. Mit einem Wort: Krieg - Krieg in der Stadt, die Polina an anderer Stelle ihres Tagebuchs einmal ein schreckliches »Märchen« nennt. Es wird noch Jahre dauern, bis sie zusammen mit ihrer Mutter der Hölle entkommen kann (darüber berichtet Olaf Kühl) …

Im Jahre 1994 beginnt Polina, ihr Tagebuch zu schreiben, wenig später bricht der Krieg aus. Mit starkem Durchhaltewillen führt das Mädchen dieses Schreiben ein Jahrzehnt lang fort, trotz aller Widrigkeiten - oft in bitterer Kälte und bei einer Petroleumfunzel in einer nicht verschließbaren, halb zerfallenen Plattenbauwohnung. Später kann sie so der Weltöffentlichkeit ein einzigartiges Dokument vorlegen. Olaf Kühl nennt den Umstand, dass diese Hefte gerettet wurden, einen Glücksfall, und er erinnert zu Recht daran, dass die Tschetschenienkriege, »weniger lange zurückliegen als der Mauerfall, aber schon zu ihrer Zeit eher im Zwielicht als im Rampenlicht standen«. Fast nichts wussten wir.

Besonders erschüttert an diesen Aufzeichnungen ihre Unmittelbarkeit, ihre Authentizität. Bei einer nicht endenden Bilder- und Filmeflut heute bleiben wir letztendlich doch als Betrachter draußen, in Distanz. Polinas Aufzeichnungen reißen uns dagegen ganz unmittelbar mit hinein in das Grauen, das sie zuerst noch kindgemäß-altklug, später voller Angst und schließlich wie Schmerz und Schrei dokumentiert, qualvoll in der nicht enden wollenden Wiederholung. Schreiben ist letzte Therapiemöglichkeit.

»Detonationen im Hof. Ich sitze in der Küche. Unser Haus brennt. Mama ist weg ... nur wenn ich schreibe habe ich keine Angst.« Polina lebt mit ihrer russischen Mutter allein. Um überhaupt zu überleben, müssen sie auf dem Großmarkt mit irgendwelchen Habseligkeiten handeln. Später tragen sie die wertvollen Bücher der großväterlichen Bibliothek dorthin, dabei fast immer unter Beschuss und in Lebensgefahr. Wenn Unterricht überhaupt stattfindet, geht Polina morgens in die Schule, nachmittags auf den Zentralmarkt, wo wie überall der Überlebenskampf tobt. Einmal wird sie dort durch eine russische Rakete schwer verletzt. Dabei sterben mehr als einhundertvierzig Menschen, meist Frauen und Kinder.

In Grosny, früher ein Meltingpot, ein »multikulturelles Gewebe« (Olaf Kühl) aus Tschetschenen, Russen, Ukrainern und anderen kaukasischen Völkern, brechen nationale und religiöse Konflikte auf. Polina und ihre Mutter, selbst mit multiethnischen Wurzeln, werden als »Russenschweine« degradiert. Die Tschetschenen liefern sich Gefechte untereinander. In einer sexuell aufgeladenen, männerdominierten Atmosphäre werden die Mädchen oft schon mit vierzehn verheiratet. Irrwitzig erscheint der Kontrast zwischen Polinas bitterer Armut und ihrer erstaunlichen literarischen Bildung. Sie will lernen, später studieren, einmal Zeugnis ablegen.

Fast verhungert, in einer Wohnung voller Ratten, mitten im »schrecklichen Märchen Grozsy«, träumt das junge Mädchen manchmal als »Prinzessin Budur« von ihrer ersten Liebe zu dem fernen, in den Bergen versteckten »Aladdin«. Schließlich folgt ein Umzug dem nächsten. Heute lebt die Journalistin Polina Scherebzowa im finnischen Exil. »Polinas Tagebuch«, zuerst in Frankreich erschienen, erinnert an das der Anne Frank. Als Kriegstagebuch hat es exemplarischen Charakter und schreckliche Aktualität.

Links:

  1. http://www.nd-aktuell.de/shop/index.php?booksearch=1&s[title]=Polinas+Tagebuch&s[author_lastname]=&s[author_firstname]=&s[publisher]=&s[year]=&s[isbn]=&action=submit