Donezk - »Republik« im Ausnahmezustand

Die Schäden können das Ausmaß der Kämpfe nur erahnen lassen / Besuch in Städten der Ostukraine

  • André Widmer, Donezk
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Waffenstillstand in den Separatistengebieten der Ostukraine ist brüchig. Die humanitäre Lage auf dem Land bleibt kritisch und die Stadt Donezk fernab von einem geregelten Alltag.

»Nicht einmal die Deutschen haben uns so etwas angetan«, sagt die alte Frau, die gerade von einem Fußweg auf die Hauptstraße in Ugljegorsk tritt. Ihr Wohnort liegt in unmittelbarer Nachbarschaft von Debalzewo - der Stadt, um die vor gut drei Wochen die große Schlacht zwischen prorussischen Einheiten und der ukrainischen Armee tobte.

Ugljegorsk ist nach der Einnahme durch die Separatisten von den Kampfhandlungen gezeichnet. Viele Häuser sind schwer beschädigt. Die Rentnerin erzählt, dass auch ihr Haus getroffen wurde. Sie ist verwirrt, ja traumatisiert: Sie weiß nicht einmal, wer nun die Kontrolle über ihr Dorf hat - und dass das Territorium jetzt Gebiet der selbst ernannten und völkerrechtlich nicht anerkannten »Volksrepublik Donezk« ist.

Im ehemaligen Kulturhaus, einem mächtigen Gebäude, hat sich im Erdgeschoss in einem dunklen, behelfsmäßig nur schwach beleuchteten Raum Médecins sans Frontières (MSF) eingerichtet. Am Vortag zählte die Hilfsorganisation Mediziner ohne Grenzen 70 Konsultationen von Einwohnern. Heute etwas weniger. »Wir betreiben mobile Kliniken. Die Situation ist sehr ernst, es darf nicht mehr lange so bleiben«, schildert Thierry Gotteau von MSF die humanitäre Lage. Es fehlen Medikamente gegen Bluthochdruck, Grippe und Atemwegserkrankungen. »Etwa 80 Prozent der Leute hier sind ältere Personen. Die, die nicht fliehen konnten«, so Gotteau. MSF-Personal durchkämmt die Häuser nach Menschen, die nicht zu den ambulanten Posten kommen können. Neben Médecins sans Frontières ist auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in der Region Donezk unterwegs.

Ein paar Kilometer weiter. Debalzewo. Fast alle Gebäude zeigen Spuren des Krieges. An einer schwer beschädigten Tankstelle ein von der ukrainischen Armee zurückgelassener Panzer. »Novograd-Wolinska«, steht auf einem Abzeichen. Schwer getroffen wurden in Debalzewo vor allem die kleinen Häuser am Stadtrand, aber auch die Wohnblocks im Zentrum sind beschädigt. Die humanitäre Lage in Debalzewo ist ebenfalls sehr prekär.

Im zentralen Park stehen Leute. Einige warten auf Lebensmittellieferungen. Andere laden ihre Mobiltelefone bei den fahrbaren Generatoren auf. Gehacktes Holz liegt herum. Eine Frau kocht Brei auf einer Feuerstelle. Die ganze Stadt ist ohne Strom, Gas und fließendes Wasser. Immerhin wurde mit der Reparatur der Stromleitungen begonnen. Vor dem Krieg hatte Debalzweo 25 000 Einwohner, jetzt sind noch etwa 2000 da. Auch hier sind praktisch nur Rentner anzutreffen.

»Alles dank Kiew«, so die Meinung der Menschen in Debalzewo. Der ukrainische Präsident Poroschenko wird mit Hitler verglichen. Nazis und Faschisten will man auf der ukrainischen Seite ausmachen - auch die russische Propaganda scheint Früchte getragen zu haben. Kiew hat sicher keine Sympathien bei den Menschen in Debalzewo gewonnen. Schon gar nicht damit, dass mit einer Ausnahme im Spätherbst seit Monaten keine Renten mehr ausgezahlt wurden - also damals, als die Stadt unter ukrainischer Kontrolle war. In Artjomowsk hätte man den Leuten gesagt, für die aus Debalzewo gebe es nichts. Obwohl viele Schäden von der Artillerie der Separatisten herrühren müssen, finden sie bei den Menschen hier große Unterstützung.

Vor einem Wohnblock haben sich einige Frauen eingerichtet. Geschlafen wird in den Wohnungen mit ihren kaputten Fensterscheiben im Mantel. Neben der Treppe zum Eingang haben die Frauen ein Feuer gemacht. Dann kommt ein Bewaffneter mit seinen Kameraden. »Wir sind nur einfache Mineure. Sie kamen, um unsere Dörfer zu zerstören«, sagt er über die Ukrainer.

Ein Einwohner erzählt von der Zeit, als Debalzewo noch von der ukrainischen Armee gehalten wurde: »Die Soldaten haben hier die ganze Stadt leer getrunken. Meinem Sohn boten sie sogar Munition an, um Wodka kaufen zu können«, so Valentin. Seine Aussage bestätigt damit auch einen Bericht, laut dem die ukrainischen Soldaten nur mit einer Notration in die Schlacht geschickt wurden und sich dann mit ihrem eigenen Geld Essen und Getränke kaufen mussten.

Mit den Folgen des Krieges hat auch das Krankenhaus No. 2 in Gorlowka zu kämpfen. Gorlowka liegt 45 Kilometer nördlich von Donezk und an der Frontlinie. Das Dach wurde beschädigt. Es dringt Wasser ins Gebäudeinnere. Viele geborstene Fenster sind nur notdürftig mit Plastikfolien abgedichtet. Die vielen Einschusslöcher machen klar, dass zwischen zwei Gebäuden ein Feuergefecht stattgefunden hat.

Das Krankenhaus, das ohnehin schon unter rostiger Ausrüstung und großem Geldmangel leidet, muss nun auch noch mit den Auswirkungen der Ukrainekrise fertig werden. Unlängst ist wegen des schlechten Trinkwassers in der Stadt eine Durchfallepidemie unter Kindern ausgebrochen. Diese Woche konnten immerhin die leeren Regale mit Medikamenten, die vornehmlich aus Russland geliefert wurden, aufgefüllt werden.

Auf dem Land herrscht das nackte Elend und in Donezk geht das Leben nur schleppend seinen Gang. Einst wohnten in der stolzen Metropole des Donbass eine Million Menschen. Als es kälter wurde, kamen zwar viele Geflüchtete wieder heim. Doch mindestens ein Drittel ist nicht zurückgekehrt.

Die Separatisten der »Volksrepublik Donezk«, von den Leuten nur kurz »DNR« genannt, haben sich in den Regierungsgebäuden eingerichtet. Vieles sieht provisorisch aus. Vieles funktioniert noch nicht richtig. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass bei der Bewältigung des tragischen Grubenunglückes bei Donezk, das 33 Tote gefordert hatte, russische Hilfe vonnöten war. Nur die Propaganda in Donezk ist professionell: Drei Zeitungen werden herausgeben, drei davon sind gratis. Man empfängt russisches Fernsehen, auch den Kanal der Volksrepublik. Aber kein ukrainisches TV.

Die Separatistengebiete sind von den internationalen Zahlungsströmen abgeschnitten, die Banken geschlossen, die Geldautomaten außer Betrieb. »Einige Pensionäre gehen auf die ukrainische Seite oder geben ihre Karten jemandem, der dorthin gehen kann, um Geld abzuheben. Zudem gibt es noch unregelmäßige Zahlungen von der Volksrepublik - 1000 Griwna (etwa 40 Euro). Seit es die Republik gibt, gab es das aber nur zwei Mal. So läufts«, schildert Dimitri. Die Menschen sind auf die Hilfe von Verwandten angewiesen. Einige können arbeiten, zum Beispiel in Läden. Es gibt einen Tauschhandel. »Besser als nichts«, meint Dimitri. »Die Leute geben kein Geld aus. Sie bekommen humanitäre Hilfe«.

Stichwort humanitäre Hilfe: Das einzige, das wirklich und regelmäßig funktioniert, sind die Konvois aus Russland. Hier ist der mittlerweile 17. Transport mit mehr als 70 Lastwagen aus dem Nachbarland eingetroffen. Lieferungen von der anderen Seite gibt es zwar auch, sie bleiben aber oft tagelang an der »Grenze« bei den Ukrainern hängen. Nur ein Drittel der Geschäfte, insbesondere für Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs sowie einige Kleidershops, sind geöffnet in Donezk. Einige Lokale sind leer geräumt. Gut besucht ist in erster Linie der Markt. Es sind auf den Gehsteigen nicht sehr viele Leute unterwegs.

Der Busverkehr in der Stadt funktioniert. Nicht der Flughafen von Donezk. Einst wurde er vor der Europameisterschaft 2012 im Fußball für 700 Millionen Dollar erneuert. Jetzt ist er seit Monaten eines der am heftigsten umkämpften Gebiete dieses Krieges und liegt an der Frontlinie zwischen Separatisten und ukrainischer Armee. Hunderte von Toten und Verletzten haben hier die Gefechte in den letzten Monaten gefordert. Die Ruine wird von separatistischen Einheiten gehalten. Noch vor wenigen Tagen waren trotz des ausgerufenen Waffenstillstandes in dem Gebiet gewaltige Detonationen zu hören.

Der Weg in das Gebiet führt nun durch ein längst verlassenes Wohnviertel. Auch hier sind viele Gebäude zerstört. Hinter einem neunstöckigen Wohnblock, der 800 Meter vom Flughafen entfernt ist, liegen große Berge von Munitionskisten. Die Straße zum Flughafen ist übersät mit Geröll, Trümmern und Gehölz. Die Uliza Zlitna mutet wie ein Weg in die Hölle an. Das Ausmaß der Schäden kann die Heftigkeit der Kämpfe nur erahnen lassen. Der Flughafen von Donezk ist ein Synonym des Grauens.

Noch sind nicht alle Soldaten geborgen. Am Straßenrand vor dem Parkhaus sind zwei Soldatenstiefel zu sehen. Der Leichnam ist halb verwest und der Schädel vom Rumpf abgetrennt. Ausgebrannte Autowracks stehen herum. Zerfetzte Bäume, durchlöcherte Schilder. Und wieder: Aufgebrochene Munitionskisten. Daneben tiefe Spuren durch den Morast. Die Gebäude neben den Terminals sind schwer getroffen. Das Stahlskelett des neuen Terminals steht noch, aber alles ist stark beschädigt.

Auf dem Dach weht die Flagge der »Donezker Volksrepublik«. Die Flagge einer Republik im Ausnahmezustand.

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