nd-aktuell.de / 12.03.2015 / Kultur / Seite 17

Wir treffen nie die richtige Melodie

Norbert Scheuer erkundet die »Sprache der Vögel«

Werner Jung

Die Vögel sind ganz anders als wir Menschen, denn sie erkennen sich immer - sozusagen blind - am Gesang, an der richtigen Melodie, die auf ihresgleichen, oder an der falschen, die dagegen auf fremde und feindliche Artgenossen verweist.

Insofern lässt sich sagen, dass die Feststellung Paul Arimonds, der Hauptgestalt in Norbert Scheuers neuem Roman, auch einen poetologischen Kern enthält: Wir Menschen nämlich »treffen nie die richtige Melodie«. Wir bemühen uns zwar fortwährend, ein Leben und die ganze Menschheit lang, die treffende Formulierung samt gelungener Intonation zu finden, doch wirklich sicher sein können wir uns nie, ob wir es dann auch wirklich richtig gemacht haben.

Bereits ein Urahn von Paul, Ambrosius Arimond, sei - seinen eigenen Berichten wie auch den Legenden zufolge - 1776 auf den Spuren der Vögel und ihres Gesangs um die ganze Welt gereist, dabei bis ins heutige Afghanistan gekommen und habe schließlich von einer Unzahl bislang unbekannter Vogelarten berichtet. Diese Vogelleidenschaft teilt der später geborene Paul wie im Übrigen auch sein Vater, dessen große Passion neben dem Hochsprung das Fliegen gewesen ist, mit dem Urahn aus dem späten 18. Jahrhundert.

Man vermag daher auch ein Stück weit einzusehen, was Paul nach Abitur und Einberufung zur Bundeswehr im Jahr 2003 als Sanitäter nach Afghanistan gebracht hat; neben einer Portion Abenteuerlust, am Entkommen aus wenig freundlichen Familienverhältnissen - die Mutter hat sich von ihrem Mann getrennt und unterhält wechselnde Partnerschaften, während der introvertierte Vater sich am Ende umbringt -, und dem Versuch der Verarbeitung eines belastenden Erlebnisses, eines von ihm mitverschuldeten Autounfalls, den der Jugendfreund Jan zunächst nur schwer verletzt überlebt. Neben all diesen Gründen mag dann auch sein Faible für die Vogelwelt ausschlaggebend gewesen sein für den Einsatz. In Afghanistan angekommen, beginnt Paul am 14. April 2003 ein Tagebuch, dessen letzter Eintrag auf den 23. Mai 2004 datiert ist. Dazwischen liegen die unterschiedlichsten knappen, in der Regel ein- bis zweiseitigen Aufzeichnungen, die das Eingesperrtsein im Lager, stupide Alltäglichkeit behandeln, dann aber auch immer wieder von Attentaten auf die Soldaten, schließlich in Andeutungen von Terror und Gewalt berichten. Über allem - gleichsam als Bollwerk, das der Schreiber gegen diese belastende Realität errichtet - stehen die Aufzeichnungen über die riesige Vogelpracht in der afghanischen Wüsten- und Steppenlandschaft. Natur als Rückzugsraum, die Konstruktion einer Idylle inmitten des kriegerischen Wahns und Wahnsinns.

Norbert Scheuer hat einen eminent politischen Roman geschrieben, einen Roman, der expliziter als die in seiner Eifelheimat Kall angesiedelten Prosatexte die Signatur der Zeit und Geschichte benennt. Allerdings stammen auch die neuen Protagonisten wieder aus Kall oder kehren dahin zurück. Mit schwersten Blessuren jedoch und für das weitere Leben traumatisiert wie eben Paul, der zwar einen feindlichen Angriff überlebt hat, aber dann völlig ziellos durch Afghanistan irrt, von Amerikanern aufgegriffen und schließlich nach Hause verbracht wird. Nach Hause? Und wohin? - Längst hat ihm seine Freundin Theresa wegen eines anderen Mannes den Laufpass gegeben, ist sein Freund Jan seinen schweren Verletzungen erlegen, liegt die Familie restlos in Scherben.

Scheuers Roman ist wunderbar, ebenso verstörend wie betörend, traurig und berückend zugleich - geschrieben in der ihm eigenen Kunst der Verknappung und Aussparung, mit kunstvoll inszenierten Aussparungen und Lücken, die die Leseraktivität herausfordern.

Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel. Roman. C.H. Beck, 238 S., geb., 19,95 €.