nd-aktuell.de / 21.03.2015 / Kultur / Seite 23

Idyllen auf dem Krocketrasen

Leo Fischer
Die neue Biografie von Ursula von der Leyen liest sich wie ein Roman 
von Stephen King. Aus schierer Lust am stetig wachsenden Grauen blättert man weiter und weiter.

Politische Biografien, noch dazu solche der gegenwärtig Regierenden, sind selten Spannungslektüren. Entweder sind sie selbst politisch motiviert - dann können sie nur treuherzige Apologien oder aber schlechtgelaunte Polemiken sein. Oder sie verstehen sich als Beiträge zur Zeitgeschichte - dann wird gedeutelt und orakelt, dass die Schwarte kracht. Besonders aufregend wird’s aber nie, schon allein aus Vorsicht und Berechnung.

Deswegen ist den beiden Berlin-Korrespondenten Ulrike Demmert und Daniel Goffart mit »Kanzlerin der Reserve«, dem »ersten Buch über Ursula von der Leyen« (Berlin-Verlag) etwas bis dato Einzigartiges geglückt: Eine Biografie, die sich liest wie ein Stephen-King-Roman. Die Schrecken nehmen kein Ende, und doch blättert man weiter und weiter, aus schierer Lust am stetig wachsenden Grauen.

Dabei stehen die beiden »Focus«-Journalisten durchaus nicht im Verdacht, der CDU-Verteidigungsministerin etwas Übles zu wollen. Im besten Fall schwebte ihnen wohl so etwas wie ein »kritisches Porträt« vor. Man erfährt nichts überwältigend Neues, wird an kleinere Skandälchen erinnert, die man so oder ähnlich schon gehört hat und die für sich genommen harmlos wären. In dieser Ballung jedoch, in der unbarmherzigen Linearität der biografischen Erzählung, stellt sich zwangsläufig ein völlig anderer Eindruck ein: Ursula von der Leyen ist durch und durch und bis in den letzten Winkel ihrer Persönlichkeit hinein wahnsinnig, unrettbar wahnsinnig.

Viel Mühe verwenden die Autoren darauf, Kindheit und Elternhaus der von der Leyen in leuchtenden Farben zu schildern. Besonders die theatralisch ambitionierte Mutter sorgt dafür, dass sich das Leben der Familie Albrecht darstellt wie einem Thomas-Mann-Roman entfleucht. Schon die Kindheit von »Röschen Albrecht«, wie von der Leyen lange Zeit genannt wird, ist durchchoreographiert: »Die kleinen Stühlchen, die Heidi Adele beim Trödler für die Kinder ersteht, sind keine bunten Plastikmöbel, sondern aus feinem Holz gearbeitete Stühle, Louis-XIV.-Holzsesselchen und kleine Windsors, englische Landhausstühle, wie für Erwachsene, nur eben kleiner. Vom erstgeborenen Sohn Harald steht eine Büste im Wohnzimmer. Vor dem Einschlafen trägt die Mutter den Kindern Gedichte von Eduard Mörike vor.« Es sind Verhältnisse, die die Monatszeitschrift »Konkret« einmal »ein niedersächsisches Idyll auf Speed« nannte.

Das Leben ist eine literarische Inszenierung, und zwar nicht fürs eigene Behagen, sondern immer schon auf ein mögliches Publikum bezogen: »Die Familie betet vor dem Essen. Silvester lesen Heidi Adele und Ernst Albrecht sich gegenseitig Platons siebten Brief vor. Am Wochenende jagt Ernst Fasane beim belgischen Adel. Auf den Familienfesten wird Theater gespielt und Quadrille getanzt, die Familie lädt Gäste zur Polonaise durch mit Lampions geschmückte Gärten und spielt Boccia auf dem Krocketrasen.« Von Anfang an pflegt diese Familie Fiktionen, um sie politisch zu instrumentalisieren. Die Albrecht-Kinder und ihr bumsgesunder Kulturlandhof gehen schmerzfrei von Interview zu Interview; von frühester Jugend an funktioniert von der Leyen als Schauspielerin in diesem Idyllentheater.

Man kann sich kaum vorstellen, dass es in diesem Universum jemals so etwas wie Privatheit, Intimität, Unverantwortlichkeit gab, und die Autoren haben sichtlich Mühe, die totale Übergeschnapptheit dieses Lebens zu erden, es irgend als alltäglich darzustellen. Aber was kann Alltag sein in einer Familie, die am ehesten noch als politische »Jackson Five« zu verstehen wären? Immer wieder wird versucht, von der Leyen als Modernisiererin darzustellen, die sich lediglich einer konservativen Ästhetik bediene, um letztlich sozialdemokratische Positionen in der Familien- und Frauenpolitik durchzusetzen. Ja, es stimmt, schon die 17-Jährige interessierte sich für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf - und sah diese vor allem in ihrem damaligen Berufswunsch »Gutsbesitzerin« verwirklicht.

Nichts stimmt hier, nichts geht irgendwie auf. Es ist ein Roman aus dem falschen Leben, schrecklich und schön. Schon ihre erste politische Kampagne, ihre Kandidatur zur Ortsbürgermeisterin, funktioniert im Sinne totaler Verfügbarmachung der eigenen Lebenswelt: »Nahezu jeden Abend dreht sie Joggingrunden durch den Ort. Neben ihr die Kinder auf Rädern, Inlineskates, die Zwillinge auf dem Pony.« Fortan peitscht sie ihr Familienglück durch die Klatschspalten, durch die Illustrierten. Schnell schließen sich diesem Mummenschanz schauerliche Gestalten an: Christian Wulff zieht sie von Anfang an ins Vertrauen, auch Carsten Maschmeyer, den sie aus dem Medizinstudium kennt, ist rasch Teil der Clique. »Wir standen im Anatomiekurs an der gleichen Leiche«, wird Maschmeyer zitiert. Freundschaften, wie sie in der Hölle geschmiedet werden.

Die Autoren wollen die Politikerin als Bahnbrecherin zeichnen, gar als »Revolutionärin im Hosenanzug«: »So wie der Astronom Nikolaus Kopernikus das mittelalterliche Weltbild zum Einsturz brachte, kämpft sie gegen das traditionelle Familienbild der CDU«, heißt es in der Einleitung. Und doch liefern sie dem Leser nur Beweise für die These, dass von der Leyens ganze Politik von Anfang an darauf abzielte, der Oberschicht mehr Kinder zu machen und ansonsten die eigenen Pfründe zu sichern. Je weiter diese Biografie voranschreitet, um so mehr treten politische Anliegen in den Hintergrund: Die Produktion von Schlagzeilen ist das einzige Thema ihrer Politik. Dafür türmt sie Peinlichkeit auf Peinlichkeit, schon recht mutig sprechen die Autoren manchmal von der »Populistin« von der Leyen.

Da war ihr »Bündnis für Erziehung«, zu dem ausschließlich Kardinal Sterzinsky und Bischöfin Margot Käßmann eingeladen waren. Da war ihr Kampf gegen die Kinderpornografie, der darin gipfelte, dass sie auf Pressekonferenzen selbst kinderpornografisches Material herumreichte und dafür sogar angezeigt wurde. Da war ihr Befüllen der Sommerlöcher mit dem Wachs der weichen Themen - sie kritisierte Schönheits-OPs (»Schauen Sie doch mal in diese Botox-Gesichter, das sind Mumien«) und warnte vor zu viel Alkohol am Vatertag (»Die Väter sollten den Vatertag nicht mit einem Besäufnis begehen«), sie forderte Benimmregeln im Internet oder einen Familien-TÜV. Als sie jugendliche Spitzel in die Supermärkte schicken wollte, um testweise Alkohol zu kaufen, musste Merkel sogar persönlich intervenieren. Sie erhöhte den Hartz-IV-Satz um fünf Euro und fuhr im Karstadt eine Rolltreppe rauf und runter, um das bedrohte Unternehmen danach so flott zu vergessen, wie es ihr in den Sinn gekommen war. Huldvoll lächelnd ließ sie es geschehen, dass die Presse auf eine Bundespräsidentin von der Leyen spekulierte, und hatte hinterher aber auch nichts zu dementieren.

Besondere Beachtung verdienen die szenischen Kapiteleinstiege, die Sympathie erzeugen sollen und doch nur die komplette Durchgedrehtheit dieses politischen Habitus visualisieren: »Während sich die Männer im Saal bequem in die Sitze drücken und die Beine übereinanderschlagen, gibt ihr Rückgrat keinen Zentimeter nach. Sie kippelt nicht, wackelt nicht, rührt sich nicht. Ursula von der Leyen braucht nicht einmal eine Lehne. Nur ihr Kopf bewegt sich gelegentlich, nickt dem Redner aufmerksam und scheinbar wohlwollend zu. So wie eine Lehrerin, die brave Schüler beim Aufsagen eines Gedichts zum Durchhalten ermuntern will.« Überall zeigt sich die eiserne Schauspielerdisziplin, die sich durchs ganze fugenlose Leben zieht und in der niemals Platz für Zweifel oder Traurigkeit ist.

Michael Jackson konnte sich immerhin noch in eine stilisierte Traumwelt zurückziehen; Ursula von der Leyen hingegen kommt direkt von dort, ist auf der Neverland-Ranch aufgewachsen und lebt dort letztlich noch immer. In solcher Konsequenz, in solch gnadenlos durchkalkulierter und bis in die letzten Poren des eigenen Wesens aufgesogener politischer Ästhetik hat nicht einmal Magda Goebbels existiert, schießt es einem bei der Lektüre unwillkürlich durch den Kopf. Und Magda Goebbels hat immerhin nicht im Bendlerblock gearbeitet, nicht mit Soldaten Spaghetti gegessen und schickte auch nicht Waffen in alle Welt. Und von deutscher Verantwortung sprach sie auch nie.

Dieses Buch ist wohlwollend gemeint, muss man sich immer vor Augen halten, und doch ist es die beste Materialsammlung, die sich ein politischer Gegner wünschen kann, ein Poesiealbum giftiger Anekdoten, klar geschrieben und übersichtlich gegliedert. Spätere Generationen werden einmal sagen: Hier stand ja alles drin, hier hätte man misstrauisch werden müssen, damals hätte man sie noch aufhalten können. Aber dazu ist Ursula von der Leyen zu gut in Fahrt. Diese Frau ist nicht mehr zu stoppen. Möge Gott uns allen gnädig sein.

Ulrike Demmer/Daniel Goffart:

Kanzlerin der Reserve. Der Aufstieg der Ursula von der Leyen. Berlin Verlag; 240 Seiten; 19,99 €.