Die Lüge als Lebensprinzip

Täuschen, tricksen, betrügen: Viele Deutsche sehen darin nur lässliche Vergehen. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Schon als Kind wird uns nachdrücklich beigebracht, immer die Wahrheit zu sagen. Doch eine solche Aufforderung ist, wie jeder weiß, nicht nur zwecklos, sondern auch scheinheilig. Denn ein erwachsener Mensch, so sagen Soziologen, lügt mitunter bis zu 150 Mal am Tag, ohne deswegen unbedingt ein schlechtes Gewissen zu haben.

Manche begründen das Lügenverbot gern mit Hinweis auf die Bibel, die angeblich von allen fordert: »Du sollst nicht lügen.« Der Urtext des achten Gebots besagt jedoch etwas anderes. Nämlich: »Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.« Das heißt, nicht die Lüge an sich war im alten Israel verwerflich. Eine Sünde beging nur, wer als Jude vor Gericht einen anderen Juden fälschlich beschuldigte. Für Nichtjuden hatte das Gebot ursprünglich keine Gültigkeit.

Ohnehin ist es leichter, eine fremde Person anzulügen als eine uns bekannte oder gar vertraute. Hinzu kommt, dass viele Menschen in bestimmten Situationen gar nicht wollen, dass man ihnen die Wahrheit sagt. Das gilt für manchen Arztbesuch ebenso wie für die Antwort auf die häufig gestellte Frage: »Bin ich zu dick?« Es sind bekanntlich die kleinen und charmanten Lügen, die ein kulturvolles Miteinander überhaupt erst möglich machen. Oder, wie der Schriftsteller Oliver Hassencamp es einmal formulierte: »Aus Lügen, die wir glauben, werden Wahrheiten, mit denen wie leben.«

Laut einer repräsentativen Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Emnid für die Märzausgabe des Magazins »Reader’s Digest« durchgeführt hat, sind in der Tat nur 13 Prozent der Deutschen der Meinung, dass Lügen in jeder Form verwerflich sei. Dagegen hält die Mehrheit Lügen aus Höflichkeit für erlaubt. »Hat Ihnen das Essen geschmeckt?« Bei dieser Frage dürfe man durchaus flunkern, meinten 59 Prozent der Befragten. Und 55 Prozent gaben an, sie würden auf die Frage »Wie sehe ich aus?« nicht immer mit der Wahrheit herausrücken. Allerdings gibt es hierbei deutliche regionale Unterschiede. In Berlin, Sachsen und Thüringen tun sich die Menschen im Allgemeinen schwerer, aus Höflichkeit zu lügen (41 Prozent); die Bayern hingegen haben damit weniger Probleme (65 Prozent).

Je mehr eine Lüge egoistisch motiviert ist, desto höher liegt bei vielen Menschen die Hemmschwelle, sie zu äußern. Ein Beispiel: Man sitzt allein an einem Tisch im Café und möchte eigentlich seine Ruhe haben. Plötzlich taucht jemand auf und fragt: »Ist hier noch ein Platz frei?« Hierauf wahrheitswidrig mit Nein zu antworten, trauen sich laut Umfrage nur 37 Prozent der Deutschen. Und wer es tut, hat danach meist ein schlechtes Gewissen.

Ob Männer oder Frauen mehr lügen, ist unter Forschern umstritten. Es gebe jedoch deutliche Hinweise, dass die Motive zum Lügen geschlechtsspezifisch seien, sagt der US-Psychologe Robert Feldman, der dazu mehrere hundert Studentinnen und Studenten der University of Massachusetts befragte. Ergebnis: Wenn Frauen lügen, tun sie das eher, um soziale Spannungen zu glätten oder das Wohlbefinden ihres Partners zu steigern. Männer hingegen wollen mit einer Lüge oft ihre eigene Wichtigkeit unterstreichen.

Gewöhnlich geht Menschen eine Lüge umso leichter von den Lippen, je anonymer das angesprochene Publikum ist. Politiker demonstrieren dies bei jedem Wahlkampf aufs Neue. Manche stürzen über ihre Lügen - wie einst der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel (CDU) oder US-Präsident Richard Nixon, dem Kritiker schon früh den Spitznamen »Tricky Dick« verpasst hatten. Viele jedoch kommen ungeschoren davon und setzen ihre Karriere fort, als sei nichts geschehen. Bill Clinton wäre hierfür noch ein harmloses Beispiel. Anders dessen Nachfolger im Weißen Haus, der »wiedergeborene Christ« George W. Bush, der aufgrund von Lügen und gefälschten Beweisen einen Angriffskrieg gegen Irak vom Zaun brach und damit wissentlich gegen das Völkerrecht verstieß. Auch deutsche Politiker nehmen es mit der Wahrheit oft nicht so genau. Davon zeugen diverse Skandale um vertuschte Parteispenden ebenso wie die ruhmlosen Abgänge von Christian Wulff, Karl-Theodor zu Guttenberg und Sebastian Edathy.

»Der Politiker ist nicht gehalten zu sagen, was er denkt. Lügen, zumindest innerhalb gewisser Grenzen, ist seine Pflicht«, schrieb einst der spanische Philosoph José Ortega y Gasset. Dass viele Politiker dem offenkundig nacheifern, schürt nicht nur die Parteienverdrossenheit. Es prägt auch das soziale Klima, wie die deutsche Soziologin Susanne Karstedt (University of Leeds) und ihr britischer Kollege Stephen Farrall in einer Studie festgestellt haben. Sie befragten unter anderem rund 2500 Bundesbürger, die mehrheitlich zugaben, um des eigenen Vorteils willen hin und wieder zu lügen, zu mogeln, zu betrügen. Die einen sparen Kosten durch schwarze Barzahlungen, andere geben zu viel erhaltenes Wechselgeld nicht zurück und wieder andere haben keine Probleme, falsche Angaben beim Verkauf eines gebrauchten Gegenstandes zu machen. Zugleich sind dieselben Menschen oft maßlos empört, wenn sie selbst das Opfer von Lügnern oder Betrügern werden. Der Vollständigkeit halber sei jedoch angemerkt, dass Ostdeutsche bei besonders miesen Betrügereien deutlich zurückhaltender sind als Westdeutsche.

Befördert wird die amoralische Entgleisung unserer Gesellschaft vor allem durch den ungezügelten Markt. »Der Bürger beobachtet, wie Unternehmen agieren, und hat das Gefühl, das sei eben normal«, sagt der Jurist und Kriminologe Kai Bussmann von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und fügt hinzu: »Eine Wirtschaft, die als rücksichtslos wahrgenommen wird, hat eine kriminogene Wirkung.« Das heißt, sie verleitet Menschen dazu, die Gesetze lediglich als Empfehlungen anzusehen, die man wohl einhalten sollte, aber nicht unbedingt muss.

In ihrer Studie verweisen Karstedt und Farrall auf ein bemerkenswertes historisches Faktum: Zu früheren Zeiten war es namentlich unter britischen Bauern üblich, sich gegen die ortsansässigen Müller zu erheben, wenn diese völlig überteuertes Mehl zum Verkauf anboten. Heute sind die Verbraucher zwar auch furchtbar sauer über zu hohe Preise oder falsche Wahlversprechen. Doch damit ist es in der Regel getan. Sich dagegen aufzulehnen, kommt nur den Wenigsten in den Sinn. Die meisten reagieren marktkonform und warten geduldig, bis sie selbst im Konkurrenzkampf andere überflügeln können. Solidarität zwischen Menschen, die sich im Grunde in der gleichen sozialen Lage befinden, kann unter solchen Umständen kaum gedeihen. Wenn es dazu noch eines Beweises bedurft hätte, die Hetzkampagne gegen die, wie es hierzulande heißt, »gierigen und verschwenderischen Griechen« hat ihn jüngst geliefert.

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