Showtanz vor Felsensteins Büste

Mit ihrem »Tangofestival« erschloss sich die Komische Oper ein anderes Publikum

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

»Sie tanzten Tango ...«. Ein ganzes Wochenende lang. Tango und die Komische Oper. Ein Narr, wer Böses dabei denkt. Verwässerung des Profils? Keineswegs. Öffnung des Hauses: sehr wohl. Das Festival hatte Erfolg. Der Andrang war riesig. Ein anderes Publikum als gewöhnlich fand sich ein.

Tango kommt interkontinental daher, geschichtlich sehr verschiedene Praktiken haben seine Formen geprägt. Die Herkunft der Besucher schien dem zu entsprechen. Derartiger Erfolg dürfte die Programmpolitik des Hauses weiter pluralisieren. Denn die fährt, seit Barrie Kosky dort die Feder führt, auf Gegensätze ab. Das Gekreische an Tischen des Establishments - der »Ball im Savoy« macht es vernehmlich - steht neben den bitterernsten Tonlagen der Zimmermann-Oper »Die Soldaten«. Nico Dostals »Clivia«, geschickt arrangierte Klamotte aus den frühen Dreißigern, kann nicht dumm genug sein, um demnächst zusammen mit Schönbergs antifaschistischer Oper »Moses und Aron« auf dem Programm zu stehen. Die Komische macht’s möglich.

Die Unternehmungen wechseln schroff, ruckartig. In der einen hausiert schon die nächste oder sie beißen einander, hacken sich - es fließt kein Blut - die Augen aus. Zwirn wechselt mit Seide, hoch mit niedrig, das sinnlich-artistische Trallala mit dem, was »Opéra engagée« heißt.

Nun sogar Tango, gekleidet in ein Festival. Da kommen die Leute gelaufen. Ein Tango-Gastkonzert gab der berühmte Gideon Kremer mit seiner Kremerata Baltica. Klassik und Tango scheinen befreundet seit den 1920er Jahren, wohl auch schon vorher. Allen stand das Tango-Café mit Live-Musik offen. Argentinische und sonstige Ensembles musizierten. Diverse CD-Nummern aus frühen Tagen, argentinische Milongas mit Bandoneon, Streichern, Gitarre, Schlagzeug und herzzerreißenden Gesängen spulten ab. Tanzflächen öffneten sich für Tangomusik aus der Türkei. Zahllose Paare probierten ihre kreatürlichen Fähigkeiten auf der Hauptbühne aus.

Tangofeste bedürfen nicht der gesonderten Kreierung. Sie sind einfach da, organisieren sich selbst, wenn nicht täglich, dann mindestens zum Wochenende. Der Hunger nach Tango ist ungeheuer, wo doch selbst der »Tango Nuevo« nichts Neues mehr kreiert, stattdessen elektronisierte Kopien bietet, meist schlechte, im Zeichen einer »Weltmusik«, die es nicht gibt.

Woher rührt dieser Tangohunger? Zahllose Tangogruppen und unzählige Paare gibt es allein in Berlin, von den vielen Schulen abgesehen. Davon profitierte das Haus. Ein jeder schwätzt über Tango, peinlich genug, aber immer mehr Paare, so die Beobachtung, suchen dessen Ausdrucksformen körpersprachlich umzusetzen. Das Brüchige, Rauchige, Raue, Authentische scheint am meisten anzuziehen. Erfreulich, das zeigte das Fest, die Leute mögen gerade jene Versionen des ursprünglichen vorstädtischen Tangos, wie sie die Plebs vollführten. Es gibt unzählige Fotos und Filme darüber. Die Patina des Alten reizt und bewegt und rhythmisiert die Körper, die Schädel mit ihren Falten, die behänden Gliedmaßen.

Es war das erste Tangofest der Komischen Oper, und angesichts des Zuspruchs dürften weitere folgen. Über eigenes Erleben lernt der Neugierige das Unverfälschte zu schätzen. Showtänze von Professionellen vor der Büste Walter Felsensteins oben im Foyer des Hauses wechselten ab mit »Milongas« für alle. Paare jeden Alters und jeglicher textiler Couleur schoben sich anmutig durch die gefüllten Räume.

Höhepunkt auf der Hauptbühne die Wiedergabe der Operíta »María de Buenos Aires« - eine Geschichte des Tangos von Astor Piazolla (Libretto: Horacio Ferrer). Das abendfüllende Werk entstand in der heißen Zeit 1968, spiegelt diese aber nicht. Das Motto lautet »Leid und Leidenschaft«. Es geht um die Geschicke des Tangos. Existenzielle Geschichten oder Szenen spulen ab, 17 an der Zahl. Den vielfach immergleichen Reigen dirigierte mehr oder minder aus der Hüfte der Norweger Per Arne Glorvigen, Mann des Tangofaches und exzellenter Bandoneon-Spieler. In Aktion treten ein Tanzpaar, ein Sprecher, ein Sänger, eine Sängerin, ein gemischter Chor, ein Streichquintett (mit Kontrabass), dazu Flöte, Gitarre, Klavier, Schlagzeug. Im Lebensgang der María enthüllt sich die so traurige wie lebensvolle Historie des Tango.

Alle Musikalität steht im Zeichen der sich aussingenden tangonesken Seele. Walzer gesellen sich ihr. Eine langsame Ballade ist auf eine »verrückte Drehorgel« gemünzt. Eine Toccata klagt an. Die Milonga tritt mehrmals ins Bild. Auch eine »Gegenmilonga zum Begräbnis des ersten Todes von María«. »Briefe« ergehen an Bäume und Kamine. Handfeste Arien und leidenschaftliche Lieder zeichnen grell melodramatische Situationen. Die Romanze gehört wie die Fuge zum musikalischen Bild. Eine hintere Szene heißt »Allgero Tangabile«. Ein Gemisch verschiedener Stile, Setzweisen, Haltungen bot sich den Ohren dar.

Bestechend die Grazie und Könnerschaft des Tanzpaares. Am Werk erfahrene Sprecher und Sänger wie Daniel Amaro und Julio Delgado, Sachverständige hohen Grades. Gefeierter Star des Abends Julia Zenko als María. Eine Stimme, so sicher wie die Kirchenknaben, wenn sie aufs Reinlichste das Amen singen. Phantastisch bei der Sache die Musikerinnen und Musiker des Orchesters der Komischen Oper. Die Geigensolistin übertrieb ihr Vibrato etwas. Man darf Tango auch senza vibrato spielen.

Es gibt eine Aufnahme des Stück unter Piazolla von 1968. Sie ist ursprünglicher, zurückgenommener als die gebotene Version. Allzu viel Luxus schleppt diese mit, Showeffekte, Dinge fürs Auge. Vorstadtszenerien fehlen völlig. Schade.

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