nd-aktuell.de / 26.03.2015 / Kultur / Seite 17

Gretchen, Babuschka

Gestorben: Bärbel Bolle

Hans-Dieter Schütt

Im Nachruf auf Schauspieler geschieht bisweilen - aus Ehrerbietung - große Ungerechtigkeit. Weil man dem Einzelnen den letzten Kranz flicht, missachtet man Theaters Wesen: Keiner spielt für sich allein. Vor kurzem starb Fred Düren. Noch immer: bedrängendes Erinnern an seinen »Faust« am Deutschen Theater Berlin - dieses entschiedene Eingesargtsein in die Missachtung aller Gegenwart. Vor drei Tagen nun ist auch sein Gretchen gestorben: Bärbel Bolle.

In der Inszenierung von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz, vor über vierzig Jahren, glich sie einer hellen, wachen Provokation wider diesen ungelenken Düsterling. Da strahlte Natur gegen den Intellekt. Da prunkte, zerbrechlich, eine fraukindliche Überlegenheit, eine ganz praktische Ehesehnsucht - dieses Mädchen glich einer Botin aus dem Paradies, in dem sie diesen Faust auch dann noch erwartete, da sie längst gequält und geopfert im Kerker hockte. Und ihn also vorführte als Höllenkerl. Bärbel Bolle spielte Überlegenheit von ganz unten auf, da war Glanz im Grauen, so leicht, als sei Bewusstsein ein naives Organ und die Welt nicht entzauberbar.

Geboren 1941 in Parchim, studierte Bärbel Bolle an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst. Ensemblemitglied am Deutschen Theater war sie über dreißig Jahre. Leben, arbeiten im Erfahrungs- und Erfolgstempel, mit Regisseuren wie Wolfgang Langhoff, Benno Besson, Thomas Langhoff, Heiner Müller, Friedo Solter, Horst Sagert. Im Fernsehen sah man sie in Filmen Ulrich Theins (»Der Andere neben dir«, »Dach überm Kopf«) und Thomas Langhoffs (»Stella«) - eine von Schwung und Nachdenklichkeit Beseelte, von stiller Präsenz und bleibend lieblicher Kraft.

Ihr Leben kannte Jahre eines erschütterten Gemüts, Zeiten des krankheitsbedingten Ausstiegs, Phasen einer argen Resignation. Sie wanderte, sie gastierte; Düsseldorf, Hamburg. Es war Frank Castorf, der sie 2009 an die Volksbühne holte. Mit seinem Solidarsinn für die Barden, die keiner Welt mehr etwas beweisen müssen - es aber wollen. Und können. Mit geradezu geruhsamer Energie, in freier Liebe zu ungebrochenen Spielmöglichkeiten. Bärbel Bolle trippelte und säuselte durch Tschechow und Céline, sie wühlte sich zart durchs Pollesch-Wortbergmaterial. Wann immer sie eine Szene hatte, zuletzt in Castorfs genialem Europa-Epos »Kaputt«, leuchtete etwas auf von fern her; die alte Lieblichkeit in nun ganz anderem Leib, scheu und robust zugleich, komisch behäbig und babuschka-listig beharrend. Immer sehr beteiligt und doch auch so, als schaue sie sich selber staunend zu.

Bärbel Bolle, das unvergessliche Gretchen, wurde 73 Jahre alt.