Kinder von Lichtenberg

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich bin 50 und antworte, wenn man mich fragt, wie ich mich fühle, ich sei gesund und schuldenfrei. Alles in Ordnung. Bloß nicht einen auf Mittzwanziger machen, denn meine Vorlieben sind zeitlos und der Rock ’n’ Roll unsterblich. Was sind wir alt - Oi! Der Haken ist heutzutage nur, ich verkrafte dieses Tanzen und Trinken keine zwei Nächte hintereinander, zumindest nicht zwischen den 200 monatlichen Arbeitsstunden.

Der letzte Donnerstag ging gut aus, mit meiner unplanmäßigen Problemberatung gegenüber einem Kumpel in der Kneipe; aber der Freitag, aua. Wir trafen uns beim Langen pünktlich in Lichtenberg zu Bockwurst oder Knacker, was bedeutet, dass es beides gab, sowie Bier und Futschi, und bald darauf spazierte unser Dutzend Szenezombies mit einem Lied auf den Lippen los, nämlich mit Kim Wildes »Kids Of America«, denn Kims Konterfei haben wir jeweils in Knopfgröße zwischen den Brustwarzen als Tattoo. »Wir sind die Kinder von Lichtenberg, ohoho, und am Wochenende fahren wir in den Friedrichshain, lalala«.

Die Übersetzung stammt vom Dichter, Theatersportler und Frauenhelden Dan Richter. Jedenfalls fanden im RAW-Gefängnis die Auftritte der Rockgruppen Test A, Lucky Punch und Pöbel & Gesocks statt, deren Musiker allesamt Persönlichkeiten sind, denen man vertrauen kann. Ein rauschendes Fest nahm seinen Lauf, mit güldenen Bieren und sonst wie farbigen Schnäpsen. Nicht durchnummerierte 111 Leute freuten sich vor der kleinen Bühne ihres großartigen Lebens, und auch ich hätte es dabei belassen sollen. Doch der Rock ’n’ Roll-Teufel ritt mich auf die Bühne, auf der ich, meine ich, zum Schlager »Oi! Punk pervers« eigentlich nur kurz herumzustehen gedachte, was in diesem Kulturkreis nicht mit versuchtem Totschlag seitens der Sicherheitskräfte honoriert wird, sondern mit der Mikrofonübergabe des Sängers. Ich sagte zwei Tage später zum unscharfen Beweisfoto des berühmten BFC-Fans namens Lokalmatador zwar, ich hielte da nur eine Bierflasche vor dem Mund, doch der Mikrofonständer zwischen meiner Faust und den Füßen gab mir Unrecht. Oh je, was hatte ich da gesungen?

Der Lichtenberger Lange und seine Crew konnten sich an nichts erinnern, auch nicht an den anderen Teil der Wahrheit, wonach ich auf der Bühne den mir körperlich überlegenen Sänger, dem langen Elend Willy Wucher, um die Oberschenkel packte und der Erhebung in den Olymps wegen für einen Moment gen jenen bewegte, was zumindest beim zweiten Versuch klappte. Welch Triumph!

Doch mein Rücken und ich können derartige Faxen nicht empfehlen. Ich bin 50, trage kein »Helfen Sie mir über Straße«-Shirt, möchte aber ab und zu vor mir beschützt werden; zumal nach meiner letzten Erinnerung an jene Nacht, kurz bevor ich aus der Bahn ausstieg, in selbiger eine Frau vor mir flüchtete.

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