Hartz IV im Einzelfall auch für EU-Bürger

Gutachten: Grundsätzlicher Ausschluss rechtswidrig

  • Grit Gernhardt
  • Lesedauer: 3 Min.

Haben EU-Bürger in Deutschland einen Anspruch auf Hartz IV? Mit dieser Frage beschäftigen sich verschiedene deutsche und europäische Gerichte seit Jahren - ohne bisher eine endgültige Einschätzung getroffen zu haben. Am Donnerstag legte Melchior Wathelet, Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, ein Gutachten vor, das richtungsweisend sein könnte. Demnach haben arbeitssuchende EU-Bürger in Deutschland einen Anspruch auf Sozialleistungen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. So müssen sich Antragsteller mindestens drei Monate in Deutschland aufgehalten und dort bereits gearbeitet haben. Zudem spiele es eine Rolle, ob Kinder regelmäßig die Schule besuchen. Sie hätten ein Recht auf Ausbildung und ihre Eltern damit ein Aufenthaltsrecht im selben Staat, so das Gutachten.

Ausschließen dürfe ein Mitgliedsstaat Sozialleistungen, wenn die Beantragenden ausschließlich zur Arbeitssuche in das betreffende Land gekommen sind oder sich dort länger als drei Monate aufhalten, ohne sich um Erwerbsarbeit zu kümmern. Es bleibe aber eine Einzelfallentscheidung, die vom betreffenden Staat geprüft werden müsse, so Wathelet.

Im konkreten Fall ging es um eine Bosnierin mit schwedischer Staatsbürgerschaft, die in Berlin lebte und deren Kinder hier die Schule besuchen. Sie hatte gegen das Jobcenter Neukölln geklagt, das ihr und ihren Kindern nach sechs Monaten die Leistungen gestrichen hatte. Das Bundessozialgericht hatte den Fall ans EuGH verwiesen, auch um die Frage zu klären, ob die deutsche Praxis, EU-Bürgern erst nach einem Jahr Beschäftigung Hartz IV zu gewähren, mit EU-Recht vereinbar ist. Zudem ist noch nicht entschieden, ob Hartz IV eine Sozialleistung ist, die die Existenz sichern soll, oder ob es der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt dient. Laut Gutachten trifft ersteres zu - was die offizielle Linie der Koalition ad absurdum führen würde, die Hartz IV als Mittel anpreist, mit dem Langzeiterwerbslose in Arbeit gebracht werden können.

Da das Gericht meist der Einschätzung der Gutachter folgt, wird das in einigen Monaten erwartete Urteil wohl auf wenig Begeisterung bei der Bundesregierung stoßen. Ein automatischer Ausschluss erwerbsloser EU-Bürger von Sozialleistungen, wie er bisher praktiziert wird, wäre dann rechtswidrig. Staaten könnten aber Antragsteller von Hartz IV ausschließen, »um das finanzielle Gleichgewicht der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit zu erhalten«, heißt es.

Die Diakonie begrüßte das Gutachten als »Teilerfolg«. Folge der EuGH den Empfehlungen, »wäre der automatische und unbefristete Ausschluss arbeitsuchender Migranten nicht mehr haltbar«, sagte Vorstand Maria Loheide. Die Diakonie forderte die Koalition auf, den Kreis der Anspruchsberechtigten zu erweitern. »Es gibt ein Grundrecht auf menschenwürdige Behandlung.«

Im November 2014 hatte der EuGH entschieden, dass eine in Leipzig lebende Rumänin keinen Hartz-IV-Anspruch habe, weil sie nie in Deutschland gearbeitet habe. Die Richter hatten damit die geltende Regelung bestätigt.

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