Klack, tack, drin!

Gutes Auge, schnelle Hand: Kickern ist der wahre Volkssport. Von René Gralla

  • René Gralla
  • Lesedauer: 5 Min.

Jetzt ist er da, dieser Augenblick, der über alles entscheidet, bist du ein Loser oder bist du cool. »Zeig’ mir einen Schuss!«, hat Robih Mariam zu mir gesagt, und ich fixiere die Kugel, sie rollt gerade einem jener Plastikmännchen, die an langen Stangen hängen, direkt vor die Füße. Ein entschlossener Dreher, der Kunststoffkerl rotiert, mindestens dreimal um die eigene Achse, und klack-tack, erwischt der tatsächlich das Ei, scha-lupp, das Ding ist drin, ein Tor.

Ein Wunder ist geschehen, und das nach Pleiten ohne Ende im Tischfußball, angefangen am Kicker im Freibad und konsequent fortgesetzt in Studentenkreisen, eine ewige Lachnummer. Tiefes Durchatmen - aber dann holt mich die Stimme von Robih Mariam zurück in die Realität: »Das war ein Foul! Du darfst die Stange nicht loslassen!« Wieder alles verpatzt? Das muss ich erst mal verdauen, obwohl Robih Mariam generös anbietet, mir ein paar Standards beizubringen, schließlich coacht der 34-Jährige beim FC St. Pauli die Tischfußballer, und heute, am Mittwoch, ist der wöchentliche Trainingsabend.

Von den Wänden des Klubheims grüßt die Heldengalerie des Vereins: kantige Typen aus den 40er und 50er Jahren, allen voran Heinz Hempel und Harald Stender. Was hätten solche Männer, die den Ruhm des FC St. Pauli begründet haben, wohl gesagt zu Enkeln, die im braun-weißen Trikot nicht mehr ehrlich auf dem Platz schwitzen, sondern lieber mit Minifiguren daddeln? Die im Fachjargon auch noch »Puppen« heißen: der berühmte Klub vom Hamburger Kiez und Puppenkram, passt das wirklich zusammen?

Eine Frage, die Luciano Auria ernst nimmt. Der 35-Jährige, dem Äußeren nach könnte er verwandt sein mit Bayerntrainer Pep Guardiola, leitet die vereinseigene Tischfußballabteilung, in der sich beinahe 230 Aktive organisiert haben. Das ist eigentlich keine schlechte Hausnummer, und dennoch will sich der hauptberufliche Softwareentwickler »gar nicht mit dem großen Fußball vergleichen«. Was aber nicht den Anspruch ausschließt, als echter Sport wahrgenommen zu werden: »Du brauchst eine gute Hand-Augen-Kombination. Und du musst in kürzester Zeit unter Stress Entscheidungen treffen, das ist wie Hochgeschwindigkeitsschach.«

Kickern, das flotte Handarbeit verlangt, und der zergrübelte Denksport um das Matt der Könige: ein Vergleich, der verblüfft. Und der doch plausibel wird, als Luciano Auria am Spieltisch einen Angriff aus dem Lehrbuch demonstriert: Der Ball wandert über mehrere Stationen, zügig nach vorne auf die Fünfer-Reihe, weitergegeben zum Dreier-Sturm - und nun eben kein wüstes Gedresche, sondern fein abgezirkelt der Abschluss, quasi Logik im Kickerkasten, und Tor.

Der Beobachter denkt laut an Billard, und Luciano Auria stimmt dem zu: »Die Elite holt ihre Punkte nach System, konzentriert sich auf zwei oder drei Passvarianten, da geschieht nichts zufällig.« Unerreicht sei der Belgier Frédéric Collignon, gewissermaßen ein Lionel Messi der Szene, weil der 39-Jährige regelmäßig bei Weltmeisterschaften abräumt: Das Supertalent beherrsche jeden bekannten Trick und könne es sich dann sogar leisten, von gängigen Systemen abzuweichen, um seine Gegner zu überrumpeln.

Das Geheimnis sei ständiges Training, und auch Luciano Auria übt zweimal pro Woche. Er geht auf Punktejagd mit seinem Team in der ersten Hamburger Liga; der Deutsche Tischfußball-Bund (DTFB) hat einen Spielbetrieb aufgebaut, der sich am großen Vorbild DFB orientiert, mit einer Bundesliga für die besten Mannschaften der Republik. Früher trat Luciano Auria auch das echte Leder auf dem Rasen, aber irgendwann wurde ihm das Verletzungsrisiko zu groß: »Ich wollte nicht jedes Wochenende mit kaputten Knien nach Hause kommen.«

Kickern hat er für sich entdeckt vor zwölf Jahren, damals wohnte Luciano Auria in einer WG. »Tischfußball ist absolut gesellig, das hat mich überzeugt.« Gleichzeitig gefällt ihm das mentale Duell am Kasten: »Du stehst dem Anderen direkt gegenüber, und wenn der sich aufregt, weil er einen Ball nicht richtig trifft, dann macht mich das stärker, denn das kriege ich ja ungefiltert mit.«

Ein Spiel, das Menschen zusammenbringt bei gemeinsamem Kurbeln, lässig, ohne dass die Sache in Laxheit abgleitet: Wahrscheinlich boomt Kickern gerade deswegen unter den Trendsettern im dritten Jahrtausend, Spaß und Party sind angesagt, aber ein bisschen Wettbewerb soll auch gerne sein. Anfang des 20. Jahrhunderts hat wahrscheinlich der Franzose Lucien Rosengart (1880-1976) den ersten Fußballtisch gebaut; in der Gegenwart gehören die kultigen Kästen zum Inventar von Werbeagenturen, In-Lokalen und Verlagen. So auch in der Redaktion des »neuen deutschland«. Und einer, der dort häufig Matches austrägt, ist der politische Journalist Fabian Lambeck: Ihm gefällt, dass er beim Tischfußball »auf Kollegen trifft, die ich sonst nicht so häufig sehe, weil sie in anderen Büros sitzen«. Lambecks Mitstreiterin ist die Chefin vom Dienst Regina Stötzel, und sie nutzt das Kickern für den sportlichen Ausgleich: »Der Kreislauf kommt in Schwung.« Nicht zuletzt dank spektakulärer Stunts, die vollen Einsatz verlangen: »Beliebt sind Torschüsse über Bande aus der Torwartposition!«

Kickern, der Kommunikator und Fitmacher. Aber Tischfußball hat noch mehr Potenzial: »In unserem Sport können Rollstuhlfahrer und Aktive, die auf derartige technische Hilfsmittel nicht angewiesen sind, gemeinsam ein Team bilden«, sagt Luciano Auria. Folgerichtig hat der FC St.Pauli, dessen Mitglieder stolz darauf sind, an allen Fronten für diskriminierte Minderheiten zu kämpfen, eine Inklusionsmannschaft aufgestellt. Zur Auswahl gehören auch Menschen, die von der Leistungsgesellschaft wegen angeblicher oder realer Lerndefizite aussortiert worden sind. Und es sei »einfach toll, wie sich die Leute freuen, wenn sie scoren, das gibt ihnen Selbstbewusstsein, an dem sie wachsen«, begeistert sich Luciano Auria.

Anschließend wird es ernst für die Inklusionsmannschaft, die St. Paulianer bestreiten ihr erstes Ligaspiel. Im Klubheim läuft ein Gästeteam auf, das sich als »Hermanns treue Riege« vorstellt; das soll eine Hommage sein an den Patron der Kiezkneipe »Osborne«, die im benachbarten Rotlichtviertel liegt. Und das Match wird kein Spaziergang für Hermanns wackere Streiter: St. Paulis Braun-Weiße verkaufen sich bravourös, landen manch überraschenden Treffer.

Vor allem legt niemand einen Megadreher nach Art des Reporters hin, das Superfoul bleibt dem Superpatzer vorbehalten. Was im Autoren einen Entschluss reifen lässt: gleich am nächsten Montag heimlich zu üben, in einer versteckten Schenke ohne Pistengänger.

Tischfußball beim FC St. Pauli: weitere Infos unter fcstpauli-tischfussball.de.

Kickern im Deutschen Tischfußball-Bund: www.dtfb.de

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