Porträts im Geisterdorf

Anthony Marra über den Tschetschenien-Krieg

  • Mirko Schwanitz
  • Lesedauer: 3 Min.

Als der junge Stanford-Absolvent Anthony Marra in St. Petersburg einige Semester Russisch studierte, blickte er von seinem Fenster direkt in eine Kadettenschule. Auf dem Exerzierplatz wurden Jungen auf ihren Einsatz in Tschetschenien vorbereitet. An der nahen Metro-Station begegneten diese Jungen bettelnden Ex-Soldaten, die der Tschetschenien-Krieg zu Krüppeln gemacht hatte. Marra begann sich für Tschetschenien zu interessieren. Er suchte nach Büchern zum Thema und stellte fest, dass es sie nicht gibt. - Wenn das inzwischen auch nicht mehr ganz stimmt, gab es ihm doch den Anstoß zum Schreiben.

Mit einem Bild der Verzweiflung beginnt Marra seine ebenso bewegende wie verstörende Geschichte. Achmed und Hawah treten vor die Haustür. Vor ihnen liegt das Bergdorf Eldar im verschneiten Nordkaukasus. Auf der anderen Straßenseite verzischt letzte Glut in Schneepfützen zwischen den Trümmern eines verbrannten Hauses. Wie ein Gebirgsbach Treibholz mit sich reißt, nimmt Marra seine Leser mit auf eine abenteuerliche Reise durch Tschetschenien mitten im Krieg und zu den moralischen Abgründen seiner Helden. Achmed, der Dorfarzt, findet die Tochter seines Nachbarn, nachdem russische Söldner ihren Vater in ein Folterlager gebracht hatten. Er beschließt, das Kind an einen sicheren Ort zu bringen, in das einzige noch funktionierende Hospital. Es wird von der Chirurgin Sonja geleitet, die in London studiert hat und zurückkam, um nach ihrer vermissten Schwester zu suchen. Im Hospital verweben sich die Lebensläufe von Sonja, Hawah und Achmed mit denen anderer Menschen.

Marras Charaktere agieren in einer apokalyptischen Landschaft. Nichts hat Bestand, keinem ist mehr zu trauen. »Zwei Jahre zuvor waren an einem einzigen Tag einundvierzig Dorfbewohner verschwunden, und Achmed hatte ihre einundvierzig Porträts auf einundvierzig Sperrholzplatten gezeichnet und diese gefirnisst und im ganzen Dorf aufgehängt.« So gelingt ihm, was ihm als Arzt nicht vergönnt war - das Leben der Opfer, zumindest die Erinnerung, zu verlängern. Den Traumata der Hinterbliebenen steht er machtlos gegenüber.

»Ich wollte zwar einen Roman schreiben, dessen Handlung im Krieg spielt, aber keinen Kriegsroman«, heißt es. »Was mich interessierte, war die Idee der Rekonstruktion der Erinnerung.« Und so können in Marras zerfallender Welt nur jene moralisch handeln, die aus ihren Erinnerungen heraus immer wieder ihre Vergangenheit rekonstruieren. Dass es dem erst 28-jährigen Autor dabei gelingt, den Lesern am Ende Verständnis selbst für das Handeln von Verrätern abzuringen, grenzt an ein Wunder.

Das alles erzählt Marra in einer dichten, poetischen Sprache. Immer wieder hat er seine Entwürfe korrigiert. Seite für Seite mit dem Ziel, seine Bilder emotional aufzuladen, ihnen mehr Subtext mitzugeben. Über weite Strecken ist ihm das gelungen. Manchmal aber verliert sich Marra im Unterholz der Sprache. Stilblüten tauchen auf, Sätze voll unnötigem Ballast, Metaphern, an denen man hängenbleibt wie an lästigen Widerhaken. Diese Stellen schmälern die Leistung des jungen Autors nicht. Man hätte seinem großartigen Roman nur ein besseres, ein aufmerksameres Lektorat gewünscht.

Anthony Marra: Die niedrigen Himmel. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach und Stefanie Jacobs. Suhrkamp. 489 S., geb., 22,95 €.

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