nd-aktuell.de / 02.04.2015 / Kultur / Seite 17

Sibirien und Wüste

Putin, Breshnew, Castorf

Hans-Dieter Schütt

In einem einzigen Satz der ganze Putin-Staat. Niemand, so wurde gestern im »nd« ein Präsidenten-Sprecher zitiert, wolle Kunst und Kultur zensieren. Der Staat habe jedoch das Recht, für »korrekte Aufführungen« zu sorgen, die »keine erhitzten Debatten in der Öffentlichkeit« auslösen. So, wie niemand die Absicht hatte, eine Mauer ... und niemand die Absicht, die Krim zu kassieren. Grandios absurde Logik.

Ausgerechnet »Tannhäuser« wurde in Nowosibirsk verboten. Jesus als lüsterner Venusgrotten-Olm. Vor Jahren setzte der Intendant der Deutschen Oper am Rhein diese Wagner-Oper nach Zuschauerprotesten ab - weil sie faschistische Erschießungen spielte. Er wich. Der Intendant in Sibirien nicht. Er musste von Staatsgewalt abgesetzt werden, er hatte das provokante Theater seines Regisseurs durch- und hochgehalten. Wenn Kunst auf die Nerven geht, geht sie auch auf den Charakter.

Sibirien und Düsseldorf und das alte junge Thema. Wer Theatergestalt wurde, kam in neueren Zeiten weit herum. Schillers Räuber sah ich schon auf dem Mond, König Lear landete in einem Schweinekoben, Gretchen huschte iranisch verhüllt in Frau Marthe Schwertleins Garten. Natürlich mussten Hebbels Nibelungen irgendwann nach Stalingrad, die Troerinnen erwachten im Gulag. Hamlet verschlug es zu den Neonazis. Der Kaufmann von Venedig glitt schlangenelegant durchs Wallstreet-Milieu, Othello spielte sich durch eine Fremdenlegion. Wagners »Tannhäuser«-Recken rackerten auch schon in einer Biogasanlage, in Bayreuth.

Die alten Dichter schrieben für den Skandal. Ihr Werk war Anleitung zur Lunte. Sie heute aufführen heißt: diese Skandalträchtigkeit prüfen, sie zur Not brachial heraussprengen. Dichters Wort? Weniger ein Heiligtum als Dichters Geist. Theatermacher sind Jäger, sie wollen ins Herz treffen, das im Heute schlägt - und es möge auch mal stehen bleiben vor Erschrecken. Theaterspiel ist Selbstgefährdung des Apparats, nicht dessen Selbstversicherung. Kunst darf Erregung bedeutet, die ins grenzwertig Überspannte geht. Theater belügt sich, wenn es Propaganda für korrektes Verhalten wird. Es muss krass zum Bild erheben dürfen, was im Rollenspiel des gesellschaftlichen Leben sich auszusprechen, aufzuzeigen verbietet.

Natürlich ist das immer auch der beste Weg, sich zu blamieren. Den gehen Zensoren am eifrigsten. Siehe Pionier Putin. Und dann kann es aber vorkommen, dass ein sibirischer Theaterdirektor mutiger ist als einer im modernen Europa am Rhein. »Das Gute und Böse kommen als Paar auf die Welt«, sagte Richard Wagner. Und so korrespondieren die Ecken der Welt: Ein Intendant wird abgesetzt - und ein anderer verlängert. Wenigstens für ein Jahr, bis 2017: Frank Castorf an der Berliner Volksbühne. 25 Jahre sind es dann! Dauerhaft wie ein Generalsekretär. Der jüngste und vitalste Breshnew, den es je gab! Mit seinem Münchner Indochina-»Baal« ist ihm, dank der Brecht-Erben, gerade ein DDR-Traum wahr geworden: verboten zu werden. Er kennt die Litanei, für die man Theatermacher nicht mehr nach Sibirien, aber mitunter am liebsten in die Wüste schickt: Geschmacklos! Gesunkenes Niveau! Ob Russland oder Freiheitsgegenden: Um eine Wahrheit zu treffen, zielt man nie zu tief.