Durchlieferungsbewilligt

»Die Schutzbefohlenen« von Elfriede Jelinek am Burgtheater Wien. Regie: Michael Thalheimer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Über allem steht das Kreuz, weiß und bühnenhoch an die Rückwand geschlagen. Ein Lichtbalken, an dem kein Christus hängt, aber doch aller Glaube ans Gute. Es ist, als sei Jesus herabgestiegen - in Solidarität zu anderen Arten, zur Krux der Welt zu werden. Gepeinigt zu werden, ans Unglück genagelt. Vielleicht ist er bei jenen, die sich jetzt, sehr einzeln, durch den Lichtspalt zwängen, der den Standbalken des Kreuzes bildet. Als sei das Christentum ein Grenzübergang. Ein Übertritt. In ein Europa, das die Gebote zur Nächstenliebe gern übertritt.

Die Schattengestalten zwängen sich und stürzen - ins Wasser. Das ganz den Bühnenboden füllt. Sie schlagen um sich. Sechzehn Menschen. Stehen auf. Stehen geduckt. Wie auf dem Sprung. Oder vor Angst, geschlagen zu werden. Sind sie schon: Geschlagene. Bis der erste Stimmenhauch des Chores einsetzt: »Wir leben.« Eine Selbstermunterung - und wohl auch schon ein Selbstvorwurf. Leben?! Wo man doch weiß: Nur ein toter Flüchtling ist ein guter Flüchtling. Aktenfreundlich. Verfahrenspflegeleicht.

Die österreichische Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek verknüpft im Text »Die Schutzbefohlenen« ihren Zorn gegen Europas Mauer-Mentalität mit der Beschwörung antiker Dramenkraft, Texten aus »Die Schutzflehenden« von Aischylos. Sie folgt einem tatsächlichen Geschehen: Flüchtlinge vorwiegend aus Pakistan, bedroht von Abschiebung, hatten vor geraumer Zeit die Wiener Votiv-Kirche besetzt. Notwehr. Kalte Bürokratie war stärker: Was sie anschiebt, ist immer weit mehr Abschiebung, als jeder grundlegenden Menschlichkeit gut tut.

Jelinek, das ist Literatur, die Worte beim Wort nimmt, um neuen Sinn zu stiften. Das Landläufige wird läufig und heckt böse, zynische, entblößende, wortspieltollwütige Assoziationen. Text-Rollfelder, auf denen die Gedanken hochjagen, im eigenen Treibstoff explodieren; Kaskaden aus Herzwut und Sprachwitz, Sprachverliebtheitswitz; schrille kleine Hassmaschinen. Hier nun gekoppelt mit Erlebensprotokollen jener, die von sich sagen und uns sagen, sie seien gekommen, aber doch gar nicht da. Bleibende nur in einem traurigen Sinne: Sie bleiben Störende im Frieden. Tun nichts, sind jedoch Störenfriede. Haben hier aber Raum: In Klagetexten über gewürgte Hoffnungen und drückende Angst.

Am Burgtheater inszenierte Michael Thalheimer (Bühne: Olaf Altmann, Chorleitung: Marcus Crome). Der Regisseur holt unglücklich kämpfende Flüchtlinge nicht als Darsteller auf die Bühne, wie es Nicolas Stemann bei der deutschen Uraufführung am Hamburger Thalia Theater praktizierte - Thalheimer setzt sich also nicht dem Verdacht aus, es wolle merklich werden durch die Aufmischung von Bizarreffekten. Realität wird nicht dokumentiert, Kunst stellt sich ihre Welt selber auf. Ein Chor nur, mit individuell gearbeiteten Masken, einer Art Fortschreibung des Gesichts und zugleich seiner Verschanzung. Thalheimer zeigt Bewegung, körperliches Bedrängen, Unruhe, eine Atmosphäre der Enge wie der Ruppigkeit, ihr zu entfliehen. Da ist bei den Flüchtlingen gemeinsamer Kampfeswille wie gemeinsame Ohnmächtigkeit, gebrochen von individuellen Schüben aus Nervosität, Unkontrolliertheit, beißendem Spott, bissigem Angriff.

Die Aufführung akzentuiert in einem genau gefühlten Rhythmus, sie setzt sich in berückender Kühnheit einer Monotonie des Absehbaren aus, eine Monotonie, die intensiv, ganz licht- und schattensicher sowie intelligent vorsichtig bei den szenischen Belebungen einzig auf die Wucht, die Wildheit, das Wehe, das Wallende und Wühlende des Textes setzt. Kein Stück. Kein Drama. Aber dramatisch. Klang. Stimmen-Partitur. Durchgehend Bert Wredes Musik: Furie und Folie; violin drängende, durchdringende Kraft, die wie eine Armada des Zorns übers Wasser jagt; Trauerzeichen, Aufputschmelodie; dann wieder lieblicher Background eines fast arkadischen Anhauchs.

Das Kreuz, das am Ende nicht mehr da sein wird, wie alle Hoffnung verschwunden sein wird - es zieht sich durch die Theaterarbeit Michael Thalheimers und Olaf Altmanns. Am Hamburger Thalia-Theater begann vor Jahren »Kabale und Liebe« mit dem absoluten Dunkel der Welt. Dann öffneten sich die Hinterwände der Bühne, ein Kreuz gleißte auf. Erst weit genug entfernt von Kreuz und Symmetrie, erst vorn an der Rampe, wurden Winzlinge, wurden Ferdinand und Luise, zu Menschen. Kirche - eine Schule der Furcht. In welcher das Christentum, hier, ins Wasser fällt.

Dies Wasser. Darin gekrochen, gejapst, gestampft wird. An der Bühnenrampe ein schmaler trockener Streifen. Den werden die Menschen des Chores nie betreten, nie erreichen. Als sei da das Mittelmeer, das sich in eine Transitstrecke mit abstrusem Gegenverkehr verwandelte: Traumschiff-Truppen und Boat People. Jene, die mit allen Wassern eines günstigen Schicksals gewaschen sind, teilen sich als Urlauber die Horizonte mit Menschen, denen das Wasser bis zum Hals steht. Ja, Wasser hat keine Balken. Sie werden gebraucht. Aus ihnen errichten wir die Barrieren, daran Flüchtlinge abprallen, wenn sie Europas Küsten erreichen. Und erfahren müssen: Der endlich mühevoll erreichte Strand hält, was der Begriff verspricht - es darf gestrandet werden. Strandgutmenschen auf der Suche nach Gutmenschen. Plötzlich sehen auch die Masken aus wie Meeresmüll.

Thalheimer lässt vortreten aus dem Grauschwarz und zurückweichen ins Schwarzgrau; Chores Hände heben sich faustwillig und senken sich resigniert; er lässt neunzig Minuten schreien und flüstern, brüllen und bibbern. Ein erhebender, erschütternder Moment, als am Anfang nach langen Minuten des diffusen, schluckenden Lichts die schwarz gekleideten Chor-Naturen ihre Masken abnahmen und nun, geradezu blendend, im harten, konturenmeißelnden Licht - Gesichter herüberschauten, lange schweigend. Du schaust dich nahezu fest. Gesichter, ein anderes Wort für Würde. So standen bei Thalheimer immer alle, die uns signalisieren wollten: So sanft, so souverän, so in Frieden, so in der Bestimmtheit, ein unverwechselbarer Mensch zu sein, so seht ihr mich nie wieder: Liliom, Lulu, Jeanne d-Arc, Woyzeck ... Nun diese uns Anbefohlenen. Sie fallen wieder zurück ins Wasser, preschen wieder heran, die Masken wie eine Verlängerung ins Antike, dann wieder diese verhärteten, verängstigten, verzweifelten verkündenden Gesichtszüge. Und nahtloser Übergang: Der flehende Flüchtling ist plötzlich der fauchende Bürger oder wird, in Publikumsansprache, zum zynischen Hetzer wider sich selbst: »Wenn Sie einen Menschen in Not sehen, fassen Sie sich ein Herz ... fassen sie uns und gewähren Sie Sicherheit - Ihrem Staat, Ihren Mitbürgern, Ihren Nachbarn und schmeißen Sie uns hinaus. Entfernen Sie uns wie einen Fettfleck!«

Der Text der Jelinek ist das eine, aber das andere zum Thema ist ein Deutsch, zitiert im Programmheft, das jagt dir jedes Kommentarwort sofort zurück in den Hals. »Die Einreise eines Fremden ist rechtmäßig, wenn der Fremde auf Grund eines Rückübernahmeabkommens (§ 19 Abs 4) oder internationaler Gepflogenheiten rückgenommen werden musste, im Rahmen einer Durchbeförderung (§ 48 Abs. 1) oder auf Grund einer Durchlieferungsbewilligung gemäß § 67 des Bundesgesetzes über die Auslieferung und die Rechtshilfe in Strafsachen (des Auslieferungs- und Rechtshilfegesetzes ARHG, BGBl. Nr 529) eingereist ist.«

Lies das, der du nicht Schutzbefohlener bist, sondern Durchbeförderter oder Durchlieferungsbewilligter. Untersteh dich, nicht zu verstehen. Das musst du doch verstehen, das ist eine Drucksache, und du stehst unter Druck wie niemand sonst. Dass Flüchtlinge Bilddokumente von enthaupteten Verwandten vorzeigten - kein Argument für den Asylantrag. Womöglich gefälscht. Erst als der IS europäische Köpfe abschnitt, sprach man anders über die Beweiskraft solcher Bilder. Weiter mit der zornigen Verwunderung: Jelzins Tochter durfte ebenso schnell Österreicherin werden wie Anna Netrebko, dieser »abgerundete Klangkörper«. Bei der einen stimmte die Zahlung, bei der anderen zählte die Stimme. Gravitätisch, mit Schleppe, wandelt eine Sängerin über die Bühne. Wunderschön Händels »Lascia ch'io pianga«. Danach, wenn da »nur« wieder die »Unangekündigten« triefend im Wasser stehen, ist noch mehr Erbarmen und Erzürnen im Raum. Und Beschämung.

Manchmal geht mein Blick hinauf zur Decke des Burgtheaters. Dort oben: der Widerschein des Wassers auf der Bühne. Flirrende Lichtspiele. Als wolle sich Leichtigkeit ergießen. Als tanze der Himmel Wo doch ganz anderes als Tanz geschehen und also wahr sein müsste - das, was der Sänger und Dichter Stephan Krawczyk einmal in ein wunderbares Bild gefasst hat: Der Himmel fällt aus allen Wolken. Der Himmel fällt nicht aus allen Wolken. Aus diesem Abend von Thalheimer und Jelinek weht der bittere Gedanke, noch immer niste im europäischen Gemüt die jahrhundertelange Gewöhnung an imperiale Optionen für das blanke Unrecht. Es ist das Gemüt, das einst die Schotten dicht machte, um zu Eroberungen hinauszuziehen, und es ist heute das Gemüt, das die Schotten dicht macht. Nämlich dann, wenn jene leicht dahingesagte Wahrheit, wir säßen doch alle in einem Boot, als aufstörender Anspruch an die goldenen Tore klopft.

Nächste Vorstellung: 23. April

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