Ein Kerl mit Kraft

Ulrich Thein wäre 85

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Utopien sind ein Reiz. Denn wenn sie nur genügend weit ausgreifen, widerlegt sie kein Argument, und da keine unmittelbare Realisierung droht, werden sie nie banal. Schön. Sowas lockt. Manchmal trifft man im Kino auf wahrhaft offene Gesichter, die scheinen zwischen diesem Unvereinbaren eine Verbindung zu schaffen: eine Verbindung zwischen weitem Ausblick, utopischer Träumerkraft und der faltigen, gegerbten, robusten Banalität einer ganz alltäglichen Existenz. Der Schauspieler Ulrich Thein - - er war so einer. Ein James Dean des Baustellenschlamms. Ein Götz George der Aufbauhürden. In seinen Händen, in seinen Zügen, in seiner ganzen Art die Enden zweier Welten: sehnender Junge und stiefelnder Prolet. Er hatte Schmutz am Hacken seiner Schuhe, aber ging mit einem Herz ganz aus Siebenmeilenstiefeln. Er war bei DEFA und DDR-Fernsehen meist der gute, energische Kerl. Er war gleichsam Arbeiter, und sein ganzes Wesen sagte dazu: Klasse. Arbeiterklasse. Auch deren zotiger Witz und das ungezügelte Plebejische.

»Der andere neben dir« hieß sein erster eigener Adlershofer TV-Film. Das genau war Thein oft: der jeweils andere in einem selbst. Einer von uns, sagten alle, und sie sagten es so, als sei Kunst der Ort, an den man das gewöhnliche Dasein delegiert - damit daraus eine Geschichte werde, die einen überrascht. Obwohl man doch darin lebt. Aber Kunst entsteht ja, wenn man als ein Unbekannter in einer fremden, geheimnisvollen Gegend auftaucht, die das eigene Leben ist. Geboren wurde er 1930 in Braunschweig, 1951 betrat er die Bretter des Deutschen Theaters Berlins. Aber er wurde ein Mann fürs Kino (»Fünf Patronenhülsen«, »... und deine Liebe auch«, »Anton der Zauberer«). Er schien auszusehen, wie sich der junge Staat wünschte, im Gemüt der Leute auszusehen; er war der Mensch, passend zum Menschenbild, und wir gingen also wegen Thein ins Kino. In »Königskinder« von Frank Beyer wird er vom Kommunisten zum Nazi, und bleibt als Nazi doch unerwartet - ein Mensch.

Später war er in Mehrteilern Luther und Bach, und war beides so vital wie fragend; wenn Thein ganz Leidenschaft wurde, verlor er sich nie ins Ätherische. Es war, als jagten in seinem Spiel die Blitze aus festem Boden in den Himmel. Unvergesslich seine Hauptrolle als Alkoholkranker, im Fernsehkrimi »Der Teufel hat den Schnaps gemacht«. Damals waren »Polizeiruf 110« und »Der Staatsanwalt hat das Wort« eine gut funktionierende List, um im Gewande spannender Unterhaltung harte, ungeschönte Realität künstlerisch zu gestalten. Thein spielte einen Zerrissenen, seelisch Weidwunden, hineingestoßen in eine Welt, hinter deren offiziell behauptetem Kollektivsinn Egoismus und Kälte lauern.

Nach dem Zusammenbruch der DDR war sich Thein selber zu sehr Charakter, um sich an der Oberfläche Fernsehen zu verschleißen; er hatte die Kraft, »Nein« zu sagen. Das ist immer auch ein »Ja« zur Einsamkeit. Man denkt vielleicht zu eilfertig, so etwas sei ausschließlich Kraft; in Wahrheit kostet es sie. 1995 starb Ulrich Thein, fünfundsechzigjährig. Heute wäre er 85 geworden.

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