nd-aktuell.de / 11.04.2015 / Kommentare / Seite 46

»Die Dirigenten sind jetzt wir«

Rede von Martin Gut, Vorsitzender der Rudolf-Meidner-Gesellschaft, am 1. Mai 2099, vor den Vertretern der Union der Selbstverwalteten Betriebe Deutschlands (USBD) und dem Verband der Kulturschaffenden (VKS)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Kunst- und Kulturschaffende,

wir stehen an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts. Ich könnte heute darüber sprechen, welche Aufgaben vor uns liegen, was ansteht. Doch will ich die Gelegenheit ergreifen, um über das zu sprechen, was war, wie wir wurden, was wir sind. Wie schon Johann Wolfgang von Goethe sagte: »Eine Chronik schreibt nur derjenige, dem die Gegenwart wichtig ist«. Und schließlich ist heute ein geschichtsträchtiges Datum, der 1. Mai, früher bekannt als »Tag der Arbeit«.

Wir feiern aber nicht nur den 1. Mai. Wir feiern dieses Jahr auch einige Jubiläen: Vor 30 Jahren endete die so genannte »Tarifpartnerschaft«. Vor 25 Jahren wurde in Deutschland der letzte »Arbeitslose« gezählt. Und vor exakt 15 Jahren wurde der »Kunst- und Kulturfonds« eingerichtet, aus dem die Kulturschaffenden heute ihre existenzsichernden Einkommen erzielen. Im selben Jahr lösten sich die Gewerkschaften auf und gingen in der Assoziation der Beschäftigten der selbstverwalteten Betriebe (ABS) auf.

Die Jüngeren unter uns werden sich nicht mehr erinnern. Daher möchte ich es an ihrer Stelle tun: Der 1. Mai war ein so genannter Feiertag, der den Beschäftigten gewährt wurde. An ihm konnten die Gewerkschaften ihre Kampfkraft und -bereitschaft demonstrieren. Erinnern möchte ich damit an jene Periode, in der wir unsere Rechte nicht einfach beschließen konnten, sondern sie noch erkämpfen mussten. Ich weiß, wie fremd das in vielen Ohren heute klingen muss. Aber es war tatsächlich über lange Zeit eine bittere Notwendigkeit für die Beschäftigten, sich gegen jene durchzusetzen, die »Arbeitgeber« genannt wurden.

»Arbeitgeber« - wer waren diese Leute? Das ist heute schwierig zu erklären: Es waren jene, denen die Betriebe gehörten. Ich weiß, wie kurios das klingt - wem gehört schon die Luft? Dahinter verbarg sich ein Weisungsrecht: Die »Arbeitgeber« verfügten über die Produktionsmittel, über Fabriken, Maschinen, Büros, Computer und konnten damit im wesentlichen machen, was sie wollten. Was wollten sie? Gewinn machen - also einen Überschuss über ihre Kosten erzielen. Kurz: reicher werden.

Zu den Kosten gehörte der Lohn jener, die damals »Arbeitnehmer« hießen, oder genauer: »abhängig Beschäftigte«. In tage- und nächtelangen harten Auseinandersetzungen mussten die Gewerkschaften minimale Lohnsteigerungen durchsetzen. Häufig gelang ihnen nicht einmal das. Denn die »Arbeitgeber« konnten die »abhängig Beschäftigten« mit den Millionen »abhängig Nicht-Beschäftigten« erpressen, die damals »Arbeitslose« hießen und die unbedingt einen Job brauchten. Dazu kam das wachsende Heer so genannter »Prekärer«, also im wesentlichen rechtloser Werktätiger, die ganz der Gnade der Eigentümer und des Staates ausgesetzt waren. Zu ihnen gehörten auch viele Kulturschaffende, die sich zumeist kaum über Wasser halten konnten. Wie gesagt: heute eine kuriose Vorstellung.

»Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer« - das ging lange so und hätte auch noch ewig so weitergehen können. Doch dann kam die große Krise 2022. Und erstmals in einer Krise konnten die »Arbeitgeber« nicht mehr abhängig Beschäftigte, Gewerkschafter und Nicht-Gewerkschafter, Arbeitslose und Prekäre gegeneinander ausspielen. Im Großen Tarifkampf 2023 schlossen sie sich zur »Gesamtvertretung der Lohnabhängigen« (GdL) zusammen und setzten das Konzept der Lohnempfängerfonds durch.

Das war ohnehin schon ein Kompromiss: Statt deutlicher Lohnerhöhungen wurden die Eigentümer der Betriebe dazu verpflichtet, 10 bis 20 Prozent ihres Jahresgewinns an einen Fonds abzuführen, der damit Anteile am Unternehmen erwarb. Das Konzept stammt von Rudolf Meidner, zu dessen Gedenken die Gesellschaft gegründet wurde, der ich vorstehe. Vor 120 Jahren wollte Meidner in Schweden derartige Fonds gründen. Doch er konnte sich gegen die schwedischen Unternehmer und gegen die Politik nicht durchsetzen. Der Grund dafür lag in dem Plan, den Meidner mit seinen Fonds verfolgte: »Wir wollen die Kapitaleigner ihrer Macht berauben, die sie eben Kraft ihres Eigentums ausüben«, sagte er. »Alle Erfahrungen zeigen, dass es nicht ausreicht mit Einfluss und Kontrolle. Eigentum spielt die entscheidende Rolle.«

Die »Arbeitgeber« wüteten 2023 zwar gegen die Einrichtung der Lohnempfängerfonds. Letztlich aber gaben sie nach. Sie hatten keine Wahl. Die Macht der GdL war zu groß. Gleichzeitig sahen sie die relative Ersparnis im Verhältnis zu Lohnsteigerungen. Und schließlich hofften sie: Beschäftigte, die an »ihrem« Betrieb beteiligt wären, hätten nur noch das Wohl dieses Betriebes im Kopf, würden härter und billiger arbeiten. Denn unter »Wohl des Betriebes« verstanden die Eigentümer der Betriebe nur eines: ihr Wohl, ihr Gewinn.

Doch es kam, wie es kommen musste und wie Rudolf Meidner es geplant hatte: Schritt für Schritt übernahmen die Gewerkschaftsfonds die Betriebe. Denn die Unternehmensgewinne waren so hoch, dass die Fonds immer mehr Geld einsammelten. Ab einem bestimmten Punkt schürte das Panik: Zuerst an den Aktienmärkten, wo viele Unternehmensanteile gehandelt wurden - auf diese Absurdität möchte ich hier nicht näher eingehen. Mit zunehmender Macht der Lohnempfängerfonds schrumpfte die Zahl der gehandelten Aktien, die Umsätze an den Börsen sanken immer weiter, der Wert der Unternehmensanteile schwankte wild auf und ab.

Dann ging die Panik auf die Eigentümer über: Sie fürchteten um ihr Eigentum. Wir erinnern uns an die kuriose Episode, in der die Unternehmen sehr hohen Lohnsteigerungen zustimmten, nur um ihren Gewinn zu senken. Das sollte die Einzahlungen in die Lohnempfängerfonds drücken. Doch es half nichts: Mit steigenden Löhnen stieg auch die Kaufkraft, die Geschäfte liefen immer besser, Umsätze und Gewinne der Unternehmen stiegen weiter.

Nun, 2063 war es so weit: Die Gewerkschaftsfonds wurden zu Mehrheitseigentümern der Unternehmen und eine neue Zeit brach an. Seitdem werden die Betriebe verwaltet von einem Ausschuss aus Vertretern der Belegschaft, der Konsumenten und des Staats, wie es schon der österreichische Politiker Otto Bauer vor 180 Jahren vorgeschlagen hatte.

Nur noch ein kleiner Schritt war es dann, die Finanzierung von Kunst und Kultur einem eigenen Fonds zu übertragen, dessen Mittelzuweisung jährlich von der USBD beschlossen wird. Der Kunst- und Kulturfonds beendete das Elend des prekären - und früher romantisierten - Künstlerdaseins. Zur Erinnerung ein Zitat aus der Studie »Studio Berlin II« zur Lage der bildenden KünstlerInnen in Berlin im Jahr 2011: »Die wirtschaftliche Lage fast aller Bildenden Künstlerinnen und Künstler in Berlin ist prekär. Ihr Durchschnittseinkommen erreicht noch nicht einmal die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens aller abhängig Beschäftigten.« Eine absurde Vorstellung, nicht wahr?

Die Überführung der Unternehmen in die Hand der Beschäftigten bedeutete auch das Ende der »Tarifpartnerschaft«, da sich in den Lohnverhandlungen nicht mehr zwei entgegengesetzte Parteien - »Arbeitgeber und Arbeitnehmer« - gegenüberstanden. Und damit endete auch die Ära der Gewerkschaften, in denen sich die Arbeitenden zusammenschließen mussten, um sich gegen die Eigentümer der Unternehmen durchzusetzen. »Verdi« - bei diesem Wort denkt man heute nur noch an den italienischen Komponisten.

»Es ist Mode geworden, auch die Dirigenten zu vergöttern«, schrieb Giuseppe Verdi 1875 an den Musikverleger Giulio Ricordi. »Einst musste man die Tyrannei der Primadonnen ertragen; jetzt muss man auch noch die Tyrannei der Dirigenten ertragen.« Nun, die Dirigenten sind jetzt wir. Und das Orchester sowieso.

Ghost-Writer der Rede war Michael Schlecht, Wirtschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag.