Mediale Zwänge

Netzwoche

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer weiß eigentlich noch etwas mit dem Namen Tim K. anzufangen? Tim K. erschoss am Morgen des 11. März 2009 in einer Schule und deren Umgebung in Winnenden (Baden-Württemberg) 15 Menschen und anschließend sich selbst. Tim K. ist aus dem öffentlichen Gedächtnis, das immer mehr ein Mediengedächtnis ist, verschwunden - so wie auch die Namen und Gesichter jener, die seinem Amoklauf zum Opfer fielen.

Es mag kaltherzig klingen, aber bei genauerer Betrachtung ist dieses Vergessen der Medien, die kurze Halbwertszeit, mit der eine Geschichte wie die aus Winnenden aus den Medien verschwindet, ein Vorteil. Ein damit verbundener Nachteil ist jedoch, dass die Bilder, die man von Tim K. kennt, rasch durch neue ersetzt werden.

Dem Zwang der Verbildlichung, je monströser die Katastrophe oder die kriminelle Tat ist, unterwirft sich im Zeitalter der Medienherrschaft des Internets auch das alte Leitmedium, das Fernsehen. Am Beispiel der Berichterstattung über den Absturz des Germanwings-Flugzeugs Ende März in den französischen Alpen bezeichnet dies der Medienwissenschaftler Dietrich Leder auf medienkorrespondenz.de als »medialen Zwang zur Sichtbarkeit«. Er meint damit nicht das Internet, in dem sich die Boulevardgeier von »Bild« und Co. schamlos der Bilder der Angehörigen der Opfer bedienen. Leder kritisiert die öffentlich-rechtlichen Sender. »Der Absurdität, ein Bild zu zeigen, das man in seinem Aussagekern unkenntlich macht, war man bei ARD und ZDF schon in den ersten beiden Tagen erlegen, als man Aufnahmen von Angehörigen der Absturzopfer präsentierte, bei denen man ebenfalls die Gesichter unkenntlich gemacht hatte«, schreibt Leder. »Auf die Idee, auf diese Bilder ganz zu verzichten, kam man nicht, denn das bedeutete ein Eingeständnis der Grenzen, die dem Bildermedium Fernsehen gesetzt sind: Ein Röntgenbild der Seele des mutmaßlichen Täters wird es nicht geben.«

Das Phänomen, dass Journalisten über das Schlechte in der Welt nicht nur berichten, sondern Betroffenheit rituell zur Schau stellen, umschreibt der Journalist Wolfgang Michal in seinem Blog auf wolfgangmichal.de als »Gefühlten Journalismus«. »Ist in der Welt etwas passiert, das uns nahe gehen soll, erscheinen diese Medien mit Trauerrand und schwarzen Schleifchen, und die Moderatoren und Nachrichtensprecherinnen ändern - passend zum Anlass - ihre Stimmlage und Mimik. Behutsam bereiten sie ihre Zuschauer darauf vor, dass sie jetzt ganz, ganz tapfer sein müssen. So wird aus Journalisten und Zuschauern eine Schicksalscommunity, und es ist völlig gleichgültig, ob der Anlass dafür ein Krieg, ein Amoklauf, ein Terroranschlag, ein Unglück, eine Naturkatastrophe oder nur das jährliche Hochwasser ist.«

Um der Versuchung der Betroffenheitssimulation zu widerstehen, empfiehlt Dieter Leder ein alte Weisheit: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«.

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