nd-aktuell.de / 10.04.2015 / Kultur / Seite 16

Lagerkinder

LESEPROBE

Auschwitz hat sie nie losgelassen. Der Schmerz ist immer da. Vor dem Frühstück. Am Tag. Am Abend. In der Nacht. Die Mutter, die ermordet wurde, der Vater, die Schwester, der Bruder, die Großeltern, die Freundin, der Freund, Tanten und Onkel ... Alles lebt ein Leben lang und darüber hinaus in und mit ihnen und den nachkommenden Generationen. Sie tragen die Spuren des Erlittenen auf dem Leibe und in ihrer Seele ... Kinder in Auschwitz: Das ist der dunkelste Fleck im Meer der Leiden, der Verbrechen - des Todes mit seinen tausend Gesichtern: Rassenwahn, Transporte, Selektionen, Trennung von den Eltern und Geschwistern, Ratten, Seuchen, Experimente, Gestank, Hunger, Gas ...

Babys und Kinder wurden in Auschwitz in der Regel sofort ermordet. Nur wenige haben Auschwitz und die anderen Lager, in denen sie auch noch eingesperrt waren, überlebt ...

Die aus dem Lager geretteten Kinder waren nur noch Haut und Knochen. Die Menschen, die sich um sie kümmerten, befürchteten, dass sie nicht überleben würden. Sie sahen wie Skelette aus, hatten Bisswunden von Hunden, ihre Körper waren von Geschwüren bedeckt, ihre Augen von Eiter verklebt, lange Zeit lief das Essen durch sie wie durch ein Sieb hindurch, sie hatten Tuberkulose, Lungen- und Hautentzündungen.

Manche wussten nichts von ihrer Herkunft. Fast alle waren Waisen. Vor allem die kleinen Kinder waren stark vom Lager geprägt. Sie sprachen ein Gemisch aus Sprachen. Sie waren immer in Furcht, dass ihnen etwas entrissen wird: Kleidungsstücke, Essen, Spielsachen. Sie verteidigten diese Dinge, als ginge es um ihr Leben ...

Die Kinder von Auschwitz waren jetzt zwar frei. Aber wie leben nach Auschwitz? In quälend langen Jahren mussten sie lernen, das Leben aus einer anderen Perspektive als der des Lagers zu sehen, Sie mussten lernen, das Lager seelisch zu überleben. Sie mussten lernen, wieder jung zu werden, um wie die anderen Menschen altern zu können.

Aus dem Vorwort von Alwin Meyer zu seinem Buch »Vergiss deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz«[1] (Steidl, 757 S., geb., 38,80 €).

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  1. http://www.nd-aktuell.de/shop/index.php?booksearch=1&s[title]=Vergiss+deinen+Namen+nicht&s[author_lastname]=&s[author_firstname]=&s[publisher]=&s[year]=&s[isbn]=&action=submit