Ein Laden wider die Statistik

Sabine Nüssel verkauft Bücher in Zeitz - wo man dafür wenig Geld haben soll

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

In welcher Abteilung von Sabine Nüssels Buchhandlung würde man wohl ihre eigene Geschichte finden? Man könnte sie als Märchen erzählen und also in die Abteilung für Kinderbücher stecken: Es war einmal eine erst 28 Jahre junge Frau, die tapfer auszog, um die in einen tiefen Schlaf gefallene Stadt Zeitz wachzuküssen. Wenn man mag, könnte es auch die Fortsetzung eines zunächst eher traurig geendeten Historienromans sein: Am Ende des ersten Teils waren alle Buchläden in der Stadt mausetot - nun aber gibt es unverhofft einen zweiten Teil und ein neues Buchgeschäft. Oder sollte man die Geschichte als Ratgeber anlegen - dazu, wie eine Geschäftsfrau unter widrigsten Umständen und gegen alle Wahrscheinlichkeit doch Erfolg haben kann? Das geeignetste Genre wäre wohl ein Abenteuerroman: Wie eine wagemutige Frau ausgerechnet in jener bundesdeutschen Stadt Bücher verkaufen will, deren Menschen am wenigsten Geld für Bücher haben.

Zeitz im südlichen Sachsen-Anhalt ist eine Stadt mit großer Geschichte. Davon künden ein überwältigendes Rathaus im gotischen Stil, das eher an eine Trutzburg denn an einen Verwaltungssitz erinnert; davon zeugen Wandbilder, auf denen die Produkte und die Werktätigen bedeutender Industriebetriebe gewürdigt werden. In der Stadt an der Weißen Elster hatten Bischöfe und Regenten ihren Sitz und später viele erfolgreiche Unternehmen. Im Jahr 1855 nahm die Eisengießerei und Maschinenfabrik Zemag die Produktion auf. 1877 wurde, wie in einem Schaufenster zu lesen ist, die erste deutsche Standseilbahn in Betrieb genommen, um Fuhrwerke in die Oberstadt zu ziehen. In Zeitz stellte man Briketts her, Benzin und Chemikalien aus Kohle, Zucker, Süßigkeiten und Kinderwagen. Viele Bürger brachten es zu erklecklichem Wohlstand, wovon teilweise prächtige Fassaden an Gründerzeithäusern und Villen im Jugendstil zeugen.

Wer freilich heute durch das Zentrum streift, der kommt nicht umhin zu bemerken, dass es mit dem Wohlstand nicht mehr weit her sein kann. Die Zemag ist zu, das Hydrierwerk mit einst 5000 Beschäftigten ist zum Chemiepark mit noch 600 Leuten geschrumpft; die Kinderwagen werden andernorts zusammengeschraubt. In der Stadt sieht man die Folgen. Das Modegeschäft »naturelle« ist »ab sofort« zu mieten. Das Café Schirmer ist zu. Der »Orient Döner« bedankt sich für jahrelange Treue. Die Buchhandlung am Roßmarkt, 121 Quadratmeter auf zwei Etagen, ist »günstig« zu mieten. Von 27 Läden in der Wendischen Straße, immerhin einer Art Flaniermeile, ist jeder dritte verwaist.

Auch der kleine Laden in der Hausnummer 18 stand bis Frühjahr 2014 leer. Dann wurden - unter den Augen neugieriger Passanten - Regale in zartem Lila aufgestellt und Lampen angeschraubt, es wurde eine gemütliche Sitzecke vor einem großen Friseurspiegel eingerichtet; vor allem aber wurden Bücher eingeräumt. Am 7. Mai sperrte Sabine Nüssel die Tür der »Gutenberg-Buchhandlung« zum ersten Mal auf. Sie reichte Schnittchen; ältere Damen sowie der Vizebürgermeister revanchierten sich mit Blumensträußen. Als erstes ging ein Kinderbuch aus der »Pixi«-Reihe über den Ladentisch. Und damit hatte das große Abenteuer begonnen.

Zeitz ist für Händler generell kein einfaches Pflaster: Wo nicht mehr viel produziert wird, wird auch wenig gekauft. Buchhändlern allerdings werden die trüben Aussichten quasi amtlich bescheinigt. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels gibt alle Jahre einen Band heraus, der die Branche in Zahlen darstellt - und in liebevoll gestalteten Infografiken. 2014 stellte man das Buchwesen als großen, sprießenden Garten dar. Unter der Rubrik »Zum grünen Zweig« verdeutlichten Pflänzchen, wo die Branche am besten gedeiht - und wo am schlechtesten. In Bad Soden und Bad Homburg, zwei Städten im Speckgürtel von Frankfurt am Main, geben die Einwohner pro Jahr laut Statistik 158 bzw. 154 Euro für Bücher aus. In zwei Städten in Sachsen-Anhalt, Eisleben und eben Zeitz, sind es 78 Euro - gerade einmal halb so viel.

Sabine Nüssel hat, wie sie gesteht, die Statistik nicht gekannt. Sie kannte allerdings etliche Zeitzer Bücherfreunde. Die standen immer öfter in der Buchhandlung, die Nüssels Mutter Dagmar seit einem Vierteljahrhundert in Naumburg führt. Die 30 Kilometer weite Fahrt aus Zeitz wurde für viele Buchleser spätestens seit Anfang 2014 zur Pflicht, als eine große Buchkette ihre Filiale in der Stadt an der Weißen Elster zusperrte - nach 15 Jahren. 1999 hatten in Zeitz sogar zwei Buchläden gleichzeitig eröffnet. Einer hielt fünf Jahre durch; die Kette, die das ehemalige Geschäft »Buch + Kunst« übernommen hatte, ein Jahrzehnt länger. Dann gab man auf. Starkregen, der aus der Oberstadt durch die Gassen schoss, habe den Laden mehrfach geflutet, hieß es; die Umsätze, darf man mutmaßen, sprudelten weit weniger üppig. Die Buchfreunde saßen auf dem Trockenen - und baten daher in Naumburg um die Eröffnung einer Dependance.

Dass sie diese tatsächlich eröffnen würden, hätten Mutter und Tochter dann »spontan beim Frühstück« entschieden, sagt Sabine Nüssel. Eine Schnapsidee also? Keineswegs - eher die Ahnung, dass es, anders als die Statistiken nahelegen, Nachfrage und Kundschaft geben könnte. Die Bitten der extra nach Naumburg reisenden Buchfreunde deuteten es an.

Man darf Sabine Nüssel unterstellen, dass sie das Abenteuer kalkuliert anging. Die junge Frau hat seit Jahren im mütterlichen Laden mitgearbeitet - sie kennt die Branche also und weiß etwa, dass man ein neues Geschäft tunlichst bis zum Sommer zum Laufen gebracht hat, weil der Schulbeginn und Weihnachten die Kasse am lautesten klingeln lassen. Außerdem kannte Nüssel auch das Leben als Ladeninhaberin: Vier Jahre lang hat die gelernte Friseurin einen Salon geführt, Verantwortung für Angestellte übernommen, zeitweise parallel in der Buchhandlung der Mutter gearbeitet. Bis zu 70 Stunden pro Woche kamen so zusammen. »Selbstständig«, sagt sie, »besteht nicht zufällig aus ›selbst‹ und ›ständig‹.«

Vielleicht gehört es auch zur DNA einer Geschäftsfrau, sich von Skepsis und Miesmacherei nicht anstecken zu lassen. Als ein Zeitzer Makler ihr erklärte, eine Buchhandlung werde hier ohnehin nicht laufen, suchte sie das passende Ladenlokal per Inserat. Das Geschäft, das sie schließlich fand, hat nur 60 Quadratmeter - »weniger Platz für Stapelware«, sagt sie; dafür ist das Risiko besser zu berechnen. Nüssel ist mutig, aber nicht übermütig. Deshalb ließ sie die Einrichtung nicht von teuren Ladenbauspezialisten anfertigen, sondern griff selbst zum Akkuschrauber und bat den lokalen Tischler, Regale aus dem Möbelhaus an ihre Bedürfnisse anzupassen. Die Lampen installierte ein Zeitzer Elektriker. »Wenn ich etwas brauche, suche ich in der Stadt«, sagt Nüssel - und hofft vermutlich, dass im Gegenzug auch die Handwerker ihre Bücher nicht im Internet bestellen.

Apropos: Wie ruhig kann sie schlafen, wenn ihr Buchgeschäft zwar das einzige in der Stadt ist, der Lesestoff aber zunehmend im Internet bestellt und womöglich auch gleich als Datei heruntergeladen wird? Wie viel Zukunft hat ein Buchladen, dem der Erfinder des Buchdrucks auf Papier den Namen gab, in Zeiten, da sich Bücher dem Vernehmen nach von eben diesem Papier frei machen? Sabine Nüssel winkt ab. Der Markt für E-Books hat sich verachtfacht - von 0,5 auf zuletzt vier Prozent. »Das wird sich einpegeln«, sagt die junge Frau: »Die Leser wollen das Gefühl nicht missen, mit einem Buch am Strand zu liegen oder es sich auf dem Sofa bequem zu machen«, sagt sie. Und die frei Haus liefernde Konkurrenz aus dem Internet? »Die Käufer fanden das toll«, sagt sie, »bis sie merkten, dass man, wenn die Lieferung kommt, auch zu Hause sein oder zur Post laufen muss.« Da geht mancher lieber in einen Laden, wo es zu den Büchern auch Empfehlungen gibt - und vielleicht, wer weiß, auch ein wenig Klatsch und Tratsch.

In Zeitz, so besagt ein Papier zur Stadtentwicklung, werden bald 40 Prozent der Einwohner älter als 65 sein. Viele mögen keine dicken Renten erhalten - ein Umstand, der in die Statistiken des Börsenvereins ebenso einfließt wie Altersstruktur und Bildungsstand in den jeweiligen Regionen. Es sind dies die Faktoren, die gegen Zeitz als Standort für eine neu eröffnete Buchhandlung sprechen. Andererseits aber besteht ein beachtlicher Teil der Einwohnerschaft aus Menschen, die Zeit haben zum Lesen. Die sich durch Historienschmöker wühlen wie Sabine Eberts »1815«, das sich derzeit bei Sabine Nüssel verkauft wie frisch geschnittenes Brot, aber auch durch Bücher über Zeitzer Lokalgeschichte - und die, wenn er denn erst geschrieben wäre, wohl auch einen Zeitz-Krimi verschlängen, den sie zuvor bei Nüssel kaufen würden. Schließlich sind sie nicht mit dem Internet groß geworden, sondern gehen auf dem Weg zum Arzt lieber in einen »echten« Laden und freuen sich, wenn sie beim Einkauf oder auf dem Weg dorthin den einen oder anderen Bekannten treffen. Es sind dies die Umstände, die dafür sorgen könnten, dass Sabine Nüssels Geschichte doch im Märchenregal am besten aufgehoben wäre: Und wenn sie nicht gestorben sind ...

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