»Die Kinder lieben das!«

Hamburger Schachlehrer Jürgen Woscidlo lernte Co Tu Lenh über »nd« kennen

  • René Gralla
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Vietnamkrieg, dessen Ende sich am 30. April 2015 zum 40. Mal jährt, war das dominierende Narrativ in den 1960er und 1970er Jahren, löste die Studentenrebellion aus und ließ Rockmusiker wütende Songs schreiben. Seine strategischen Erfahrungen aus diesem Konflikt setzte der heute 83-jährige Oberst a. D. Ngyuen Qui Hai aus Hanoi in dem Spiel »Co Tu Lenh« (dt. Kommandeursschach) um. Der 49-jährige Schachlehrer Jürgen Woscidlo, nahm dieses Spiel an der Integrativen Grundschule Grumbrechtstraße in Hamburg-Heimfeld in seinen Lehrplan auf. Unser Autor René Gralla fragte nach.

Der Vietnamimport Co Tu Lenh wirkt sehr militärisch, mit Flugzeugen und Raketen und Panzern. Ist das nicht viel zu aggressiv für den Schulunterricht?

Nein. Wird eine Partie ausgetragen, tritt rasch in den Hintergrund, welche verschiedenen Einheiten einer modernen Streitmacht von den Steinen konkret auf dem Brett repräsentiert werden. Strategie, Taktik, Teamgeist dominieren. Wir begreifen das Kommandeursschach eben als echten Mannschaftssport, der Kooperation unter Mädchen und Jungen fördert.

Na gut, aber nach Friede, Freude, Eierkuchen sieht dieses Co Tu Lenh wirklich nicht aus.

Klar, aber wer beim Schach unbedingt kuscheln will, der hat sich so oder so das falsche Spiel ausgesucht. Schließlich dürfen Sie nicht vergessen: Der hierzulande übliche Schachklassiker mit seinen vordergründig wenig martialischen, sondern beinahe rührend altmodisch anmutenden Figuren à la Läufer, Springer oder Turm geht in Wahrheit zurück auf einen indischen Prototyp, der durchaus noch Elefanten, Reiter und Wagen kannte und entsprechend die Miniaturausgabe einer historischen Armee auf dem Subkontinent vor anderthalb Millennien war. Heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends, lässt sich schwerlich leugnen, dass traditionelles Schach insofern die Realität längst nicht mehr widerspiegelt, jedenfalls ist das die Position von Oberst Hai, der das neue Vietnamschach entwickelt hat. Auch sein Co Tu Lenh transferiert Schach in die Gegenwart, und das finde ich legitim.

Sie haben eingangs davon gesprochen, dass sich die Schüler im Team am Brett das Co Tu Lenh messen. Es geht also nicht um ein Duell.

Korrekt, aber das ist eben ein von mir leicht veränderter Austragungsmodus. Jeweils zwei Kinder bilden ein Duo und bestreiten gemeinsam den Wettkampf. Die Schüler sollen ihre Fähigkeiten bündeln, eigene Gedanken formulieren und einbringen.

Außerhalb Vietnams führen selbst Spezialanbieter das Co Tu Lenh noch nicht im Angebot. Wie haben Sie das Spiel ausgegraben?

Das verdanke ich einem Bericht, der vor drei Jahren im »neuen deutschland« erschienen ist! Ich nahm Kontakt auf mit Oberst Hai, und von ihm hat unsere Schule anschließend mehrere Sets erhalten. Mein Schachunterricht profitiert davon: Die Stunden, wenn Co Tu Lenh dran ist, werden immer besonders lebendig, und das ist auch kein Wunder bei einem Szenario, zu dem - und das ist kein Witz! - sogar Schiffe gehören. Schließlich weist der Spielplan nicht nur einen Fluss, sondern auch ein ausgedehntes Seegebiet auf. Baue ich das Kommandeursschach auf, wissen alle: Das Spiel hat die richtige Power, gleich geht es zur Sache. Die Kinder lieben das!

Neben dem vietnamesischen Co Tu Lenh unterrichten Sie auch das japanische Schach »Shogi« und andere exotische Sachen, beispielsweise Chinas »Xiangqi« und Thailands »Makruk«. Warum reicht Ihnen nicht das Standardschach?

Schach ist so bunt wie das Leben auf unserem Planeten, und diese kulturelle Vielfalt manifestiert sich in den verschiedenen Varianten, die sich weltweit entwickelt haben. Nehmen wir Japans Shogi, das erzählt die Geschichte des Kaiserreichs. Schließlich war der Shogun Tokugawa Ieyasu, der die Nation nach seinem Sieg bei Sekigahara 1600 befriedet hat, ein Förderer des Nipponschachs und hat das Spiel 1612 in den Rang eines staatlich geförderten Profisports erhoben. Und ein zentrales Feld auf dem Brett heißt »Tennozan«, in Anlehnung an eine wichtige Schlacht, die an besagtem Berg auf dem Höhepunkt der Einigungskriege 1582 ausgefochten wurde. Mit solchen Hintergrundgeschichten reichere ich den Lehrstoff an, so dass Schach an der Grumbrechtstraße immer auch Geschichts- und Kulturunterricht ist.

An manchen Schulen laufen Versuche, das königliche Spiel an den Mathematikunterricht anzukoppeln, derzeit bundesweit bekannt ist das Hamburger Projekt »Schach statt Mathe«. Verstehen Sie sich als Vertreter eines erweiterten Modells?

Soll Nachhaltigkeit das Ziel sein, darf das Konzept nicht verengt werden auf das Altbekannte. Höchstens eine Minderheit der Schüler träumt davon, Schachgroßmeister zu werden. Und vielen anderen ist es völlig egal, ob sie große Fortschritte machen am Brett; die wollen einfach mal etwas ausprobieren, das reicht ihnen. Durch die Vielfalt der Möglichkeiten, die das Schachuniversum bietet, bleibt mein Unterricht spannend. Ich verwandele das Spiel in eine Reise, die nie endet, durch andere Zeitzonen und fremde Kulturen. Hier erleben die Kinder ständig neue Abenteuer - und das beim Schach! - , und das fördert kreative Köpfe.

Momentan sind Sie in Deutschland ein echter Pionier, Co Tu Lenh können die Schüler bis dato allein in Hamburg-Heimfeld lernen. Ihre Pläne für die Zukunft?

In Vietnam hat sich Co Tu Lenh längst zu einem echten Renner entwickelt. Turniere werden in Saigon ausgetragen, Schulklassen versammeln sich auf offener Straße um die Bretter, und das Fernsehen berichtet. Ein Wettkampf per Internet zwischen der Grumbrechtstraße und einer vietnamesischen Auswahl wäre eine tolle Sache. Nach dem Vorbild ähnlicher Aktionen in anderen Schachvarianten, die ich organisiere. Zum Beispiel ist vor einem guten Monat in Chinas Xiangqi per Internet bereits die dritte Runde im Hamburg-Taipeh-Cup gelaufen; unsere Schüler haben sich im virtuellen Raum mit Altersgenossen eines taiwanesischen Klubs getroffen. Leider fehlt für Co Tu Lenh momentan noch die entsprechende Software.

Sie korrespondieren regelmäßig mit Oberst Hai. Wie tickt dieser Mann?

Wenn alle 80-Jährigen so umtriebig wären wie Oberst Hai, dann würden wir Altenpfleger arbeitslos sein. (lacht)

Vietnamschach: cotulenh.com/ blog/rule-of-co-tu-lenh-new-version-with-additional-parts Schach-Infos Integrativen Grundschule Grembrechtstraße in Hamburg-Heimfeld: www.schule-grumbrechtstrasse.de/schach Oberst a.D. Ngyuen Qui Hai: https://haiduongblog.wordpress.com

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal