Leben im »Reduziert!«-Modus

Nahezu 30 000 Thüringer beziehen seit zehn Jahren durchgehend Arbeitslosengeld II

  • Sebastian Haak, Erfurt
  • Lesedauer: 4 Min.
Zehn Jahre ist die Einführung des ALG II jetzt her. Von den derzeit etwa 132 000 erwerbsfähigen Beziehern in Thüringen lebt ein fast Viertel seit 2005 von diesen Zahlungen. Zum Beispiel Herr Ralph.

Er ist einer von denen, die seit Anfang an dabei sind. Auf den ersten Blick wirkt er wie das Abbild eines Kochs. Nicht zu groß, der Bauch rundlich, freundliche Augen, Hände so groß wie Bratpfannen. Entsprechend kräftig ist der Händedruck des Mannes. Nennen wir ihn Herrn Ralph.

Ralph also ist von Beginn an dabei, seit jener Zeit, da das Arbeitslosengeld II zum 1. Januar 2005 in Deutschland im Zuge der Hartz-Reformen eingeführt worden ist. Und Ralph war wirklich einmal Koch. 16 Jahre lang, erzählt er, habe in der Küche gestanden. Von 1980 bis 1996. Dann sei es einfach nicht mehr gegangen. Aus gesundheitlichen Gründen. Vor allem das Stehen sei ihm immer schwerer gefallen. »Das war eine sehr unglückliche Arbeitshöhe.« Verstellbare Tische, wie sie heute in manchen Küchen zu finden sind, habe es für ihn nicht gegeben.

Seit 1996 hat Ralph auf dem Arbeitsmarkt nie wieder richtig Fuß gefasst, seit 2005 bekommt er Arbeitslosengeld II. Durchgehend. Aber eigentlich ist er schon seit Mitte der 1990er Jahre dauerhaft auf Hilfe vom Staat angewiesen. »Ich bin schon viel länger dabei als es Hartz IV gibt«, wie er das selbst formuliert. Um aus dieser Abhängigkeit heraus zu kommen, hat er sich sogar schon mal als Cowboy versucht. Dann eine Umschulung zum IT-Systemkaufmann. Als er die zur Jahrtausendwende fertig hatte, ging es mit dem Platzen der Dot-Com-Blase für die Branche erst mal auf Jahre rasant bergab. Wieder kein Job.

Fast ein Viertel aller erwerbsfähigen Arbeitslosengeld II-Bezieher in Thüringen hat diese Form der staatlichen Unterstützung - Stand Sommer 2014 - durchgehend schon seit deren Einführung zum 1. Januar 2005 erhalten. Von den im Juni des vergangenen Jahres im Freistaat gemeldeten etwa 132 000 erwerbsfähigen Männern und Frauen, die ALG II erhielten, hätten etwa 29 500 schon seit circa zehn Jahren solche Zahlungen erhalten, heißt es bei Bundesagentur für Arbeit. Besonders häufig - gemessen am Landesdurchschnitt - kam Dauerbezug von ALG II trotz Erwerbsfähigkeit vor im Altenburger Land, in Nordhausen und im Ilm-Kreis.

Unter den Dauerbeziehern in Thüringen sind den Angaben zufolge auch fast 3400 Menschen, die weniger als 25 Jahre alt sind. Sie sind damit schon den größten Teil ihres Lebens auf staatliche Hilfe angewiesen, wenn nicht gar bereits ihr gesamtes Leben. Aktuellere Zahlen liegen der Agentur nach eigenen Angaben nicht vor. Der Chef der Arbeitsagenturen in Thüringen, Kay Senius, sagte, es gebe ganz unterschiedliche Gründe dafür, dass Zehntausende von Menschen im Freistaat schon seit Einführung des Arbeitslosengeldes II darauf angewiesen seien. Bei vielen spielten familiäre Hintergründe eine große Rolle: Sie pflegten Familienangehörige, seien alleinerziehend oder ihre Familien seien so groß, dass das Geld, das sie mit ihrem Job verdienten, für den Familienunterhalt nicht ausreiche. Den Zahlen der Agentur zufolge waren unter den etwa 29 500 ALG II-Dauerbeziehern fast 8800 Männer und Frauen, die Arbeit haben und trotzdem - bei einer maximalen Unterbrechung von 31 Tagen - seit 2005 als sogenannte Aufstocker auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Von allen Dauerbeziehern waren etwa 13 100 Männer und etwa 16 400 Frauen.

Tatsache sei aber auch, sagte Senius, dass so mancher Dauerbezieher von Arbeitslosengeld II im Laufe der Jahre gelernt habe, mit nur sehr wenig Geld auszukommen und sich auf einem niedrigen Sozialniveau eingerichtet habe. Solche Menschen hätten kaum eine Motivation, sich wirklich um Arbeit zu bemühen.

Ob die Einführung des Mindestlohns zum 1. Januar 2015 die Zahl der erwerbsfähigen Dauerbezieher von Arbeitslosengeld II - und vor allem die Zahl der Aufstocker - langfristig wirklich wird senken können, ist unklar. Während der stellvertretende DGB-Vorsitzende im Bezirk Hessen-Thüringen, Sandro Witt, sich davon ebenso vorsichtig überzeugt zeigte wie ein Sprecher des Thüringer Sozialministeriums, bezweifelte ein Sprecher des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Thüringen dies. »Der Paritätische Gesamtverband geht in seinem jüngsten Armutsatlas für Deutschland davon aus, dass der Mindestlohn auf die Entwicklung von Langzeitarbeitslosigkeit und Armut kaum Einfluss haben wird«, sagte er.

Auch Ralph, der einmal Koch war, erwartet keine Verbesserung seiner Lage. »Ich habe mir längst abgeschminkt, dass ich im Alter mal mehr bekomme als die staatliche Grundsicherung«, sagt der 51-Jährige. Nach fast 20 Jahren Armut sei er daran gewöhnt, nicht mehr ins Kino zu gehen, beim Discounter Lebensmittel mit knallig-roten »Reduziert!«-Schildern zu kaufen, sich permanent gegenüber Ämtern rechtfertigen zu müssen. So, sagt er, werde es für ihn auch weitergehen. Bis zum Ende.

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