Geschichte, die noch »qualmt«

Die letzten Zeugen: Karlen Vesper befragte Widerstandskämpfer und Opfer des NS-Rassenwahns

  • Hans Canjé
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwölf Porträts von Zeitzeugen - elf Männer und eine Frau - sind in diesem Band vereint. Zwölf Schicksale wie sie unterschiedlicher kaum sein können und doch eines gemeinsam haben: Sie alle waren blutjung, Teen᠆ager würde man sie heute nennen, als sie durch die herrschenden Zustände im Lande auf ihren Weg gebracht wurden, über den sie hier berichten. Die einen führte dieser ins Konzen-trationslager, so Lisl Jäger und Günter Pappenheim. Die anderen in die Reihen der alliierten Armeen, beispielsweise Wolfgang Hahn und Horst Behrendt, die an der Seite der Roten Armee kämpften. Coco Schumann wiederum, doppelt verfolgt als Jude und als Swing-Jugendlicher, überlebte das Ghetto von Theresienstadt und Auschwitz als Musiker, der dem Teufel zum Tanz und dessen Opfern zum Tode aufspielen musste. Gemeinsam ist ihnen allen schließlich der Überlebenswille und nicht zuletzt der Hass auf jene, die erst Deutschland und dann Europa terrorisierten und tyrannisierten und sie und ihre Familie aus der sogenannten »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen hatten.

Die Verfasserin der hier vorliegenden Porträts hat bereits mit Bänden u. a über Kämpfer in den Internationalen Brigaden und in der Illegalität im »Dritten Reich«, aber auch über Kinder des Krieges und des Holocaust mutige Menschen und dramatische Lebensläufe drohendem Vergessen entrissen und uns Heutigen nahe gebracht. Dabei bindet Karlen Vesper, Geschichtsredakteurin im »neuen deutschland«, die Vita ihrer Protagonisten stets ein in das Geschehen jener Jahre, die mitunter als die »dunkelsten unserer Geschichte« verniedlicht werden. Es ist Geschichte in Geschichten, die 70 Jahre nach der Befreiung immer noch »qualmt«.

Da ist die Geschichte von Günter Pappenheim, dessen Vater im KZ Börgermoor 1934 »auf der Flucht« erschossen wurde, wie man der Familie offiziell mitteilte, der jedoch in Wahrheit mit einem »Meisterschuss« von einem sich dessen später rühmenden Wächter niedergestreckt worden ist. Am 14. Juli 1943 spielt der 17-jährige Sohn des bekannten sozialdemokratischen Politikers Ludwig Pappenheim auf seiner Ziehharmonika französischen Zwangsarbeitern zu deren Nationalfeiertag auf, erfreut und ermuntert sie mit der »Marseillaise«. Die Gestapo nimmt den Jungen fest. Es folgen »Schutzhaft«, Arbeitserziehungslager und schließlich das KZ Buchenwald. Günter ist Häftling 22514. Die »Alten« nehmen den Jungen unter ihre Fittiche. Am 11. April 1945 erlebt Günter Pappenheim auf dem Ettersberg die Selbstbefreiung des Lagers durch die Häftlinge. 70 Jahre nach seinem tollkühnen »Gastspiel« in einer Werkhalle in Schmalkalden erreichte den heute 90-jährigen Vizepräsidenten des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos ein Paket aus Paris. Inhalt: 50 rote Rosen. Dank für seine damalige »Geste der Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit«.

Lisl Jäger, geboren als Leopoldine Elisabeth Morawitz in Wien, mit 17 wegen der Verbreitung antifaschistischer Schriften verhaftet, verurteilt und ins Frauenkonzentrationslager bei Fürstenberg deportiert, ist die titelgebende »Puppennäherin von Ravensbrück«. Sie erzählt die unwahrscheinlich klingende und doch wahre Geschichte über eine Aktion der geschundenen Häftlingsfrauen für die Kinder des Lagers. Zu Weihnachten 1944 trotzen sie der SS die Genehmigung zu einer kleinen Feier ab, zu der sie alle etwas spendieren, nicht nur Brot und Naschereien. Heimlich entwenden sie der SS Stoffe und anderes Material, aus dem sie Puppen nähen, Handschuhe, Schals, Socken etc. Inmitten der faschistischen Hölle ein Fest der Liebe und des Triumphes der Solidarität. Lisl überlebt das Lager und den Todesmarsch; 1950 übersiedelt sie in die DDR.

Hans Herzberg und Kurt Gutmann können deutschen Antisemiten mit einem Kindertransport nach Großbritannien entfliehen. Als Angehörige der britischen Armee kehren sie in die Heimat zurück. Spannend wie ein Krimi lesen sich die Geschichten von Hans Heisel, der als 17-jähriger Marinesoldat nach Paris kommt und sich der französischen Widerstandsbewegung anschließt, sowie des fast gleichaltrigen Erhard Stenzel, der in der nordfranzösischen Stadt Rouen aus der Wehrmacht desertiert und aus den Wäldern heraus mit Résistancekämpfern seine Landsleute, die glauben, für »Führer, Volk und Vaterland« Frankreich unterjochen zu müssen, immer wieder angreift.

Die Autorin verfolgt auch die Nachkriegslebensläufe der Porträtierten; sie blieben sich und ihren Haltungen treu, ob dies oder jenseits der Elbe. Für die »Westler« war der weitere Weg in der DDR nicht unbedingt mit Rosen bestreut. Es gab viel unberechtigtes Misstrauen gegen sie, die in Westeuropa ebenso wie jene im Osten unter Einsatz ihres Lebens gegen den Faschismus gekämpft hatten und nun am Aufbau einer neuen Ordnung mitwirken wollten. »Nicht alle unsere Beulen stammen vom Klassenfeind«, war da oft zu hören.

Im Vorwort schreibt Bärbel Schindler-Saefkow, deren Mutter das KZ Ravensbrück durchlitt und deren Vater Anton Saefkow, einer der Köpfe des größten Widerstandskreises in Nazideutschland, ermordet worden ist, dass die Porträts »nicht nur Einblicke in den Alltag zur Zeit der Hitlerdiktatur« geben. Sie vermitteln Erfahrungen über die Wahrung von Anstand und Menschlichkeit und sind insofern auch von aktuellem Wert. Sie schärfen Sensibilität und Wachsamkeit in einer Zeit, da antifaschistische Gedenkstätten geschändet und Flüchtlingsheime angezündet werden.

Karlen Vesper: Die Puppennäherin von Ravensbrück. Zwölf Porträts. Verlag Neues Leben. 250 S., geb., 17,99 €. Buchpremiere am 15. April im nd-Club, Münzenberg-Saal, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, 18 Uhr.

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